Stadt- und Ichflucht

Stadt- und Ichflucht

Foto copyright by Marco Kröner / pixelio.de

Meine Kindheit hatte ich auf dem Land verbracht. Ich liebte das beschaulichere Leben auf dem Land. Nun wohnte ich seit 4 Jahren inmitten von Stuttgart, einer Stadt mit ca. 600.000 Einwohnern.
Die Vorteile des Stadtlebens lagen für mich klar auf der Hand: die kurzen Wege, das große Angebot einer Großstadt in seiner ganzen Vielfalt und das gut ausgebaute öffentliche Nahverkehrsnetz. Man brauchte nicht unbedingt ein Auto, alles war auch sehr gut mit Bus, U-Bahn oder S-Bahn zu erreichen.
Die Nachteile dagegen waren die schlechte Luft (wer Stuttgart kennt, der weiß wovon ich spreche), die ewigen Staus, das stressige Leben (Einkaufen in überfüllten Läden, lange Wartezeiten an den Kassen, überfüllte S-Bahnen), der Dreck und der Lärm.
Der negativste Punkt für mich persönlich allerdings war die Enge. Die vielen hohen Gebäude, die einem die Sicht auf den Himmel stahlen und den Horizont versteckten, die unzähligen grauen Straßen, die sich wie ein engmaschiges Netz durch die ganze Stadt zogen. Ich fühlte mich zeitweise wie in der Großstadt gefangen. Mir fehlte das saftige Grün der Wiesen, die Bäume des Waldes, der Geruch von frisch gemähtem Gras, die unbegrenzte Sicht bis zum Horizont, die Weite, die einem Freiheit versprach.
In der Stadt entwickelte ich mich zu einem unruhigen Geist. Ich hatte stets das unbändige Verlangen, die Stadt zu verlassen und einfach raus zu fahren. Das musste nicht unbedingt weit weg sein, Hauptsache ich konnte die Stadt hinter mir lassen und frei sein.
Ich machte unzählige Ausflüge mit meinen Kindern, oft auch mit meinen Eltern. Jedesmal,.wenn die Häuser weniger wurden und die Gegend grüner, dann atmete ich regelrecht auf. Ich atmete tief die frischere Luft ein und konnte mich an den grünen Wiesen kaum satt sehen, das war wie Balsam für meine gestresste Seele.  Bald jedes Wochenende waren wir unterwegs. Und wenn das Geld nicht reichte, um die Stadt zu verlassen, dann ging ich mit den Kindern wenigstens in den Stadtpark. Den teilten wir uns mit ganz vielen anderen Stuttgartern. Der Stadtpark - in der Nähe des Hauptbahnhofes auch Schloßpark genannt - war bei der Bevölkerung sehr beliebt. Die vielen alten und wunderschönen Bäume hatten einen ganz besonderen Reiz. Leider gibt es diese Bäume nicht mehr, sie mussten für das umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21 abgeholzt werden.
Einen wunderschönen Spielplatz gab es da. Und einen Pavillon mit einer Bühne, auf der sonntags bei gutem Wetter Veranstaltungen durchgeführt wurden, für die man keinen Eintritt zu bezahlen brauchte.
An einem Sonntag waren Bianca, Marco und ich auch mal wieder zu Gast im Pavillon. An diesem Nachmittag gaben zwei Komödiantinnen Mundarttheater zum Besten.  Sie spielten zwei schwäbische Hausfrauen, die sich beim Teppich klopfen den neuesten Tratsch erzählten und dabei schamlos über ihre Mitmenschen herzogen - das Ganze war sehr lustig gemacht und das Publikum tobte.
Während der Vorstellung musste ich mal für kleine Mädchen und ließ meine beiden Kinder kurz alleine. Ich trichterte Bianca noch ein, gut auf ihren kleinen Bruder aufzupassen, ich wäre gleich wieder da.
Dann verließ ich die beiden in Richtung Toilette. Noch während ich im Toilettenraum war, hörte ich das Publikum plötzlich laut lachen. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich war das ja auch eine lustige Vorstellung, und wusch mir in aller Ruhe die Hände.
Doch als ich an meinen Platz zurück ging, traf mich fast der Schlag: Marco war nicht mehr da. Erschrocken schaute ich in alle Richtungen und suchte ihn, während ich mir den Weg zu Bianca bahnte und sie fragte, wo denn ihr kleiner Bruder geblieben wäre. Die lachte nur und sagte;"Da vorne ist er doch Mama, schau mal, da vorne auf der Bühne!" Auf der Bühne?? Verdattert schaute ich nach vorne.
Ich traute meinen Augen nicht. Da saß Marco bei den zwei Schauspielerinnen auf der Bühne ... und aß voller Genuss ein Stück Gurke. Wie war er dahin gekommen und warum aß er inmitten der Vorstellung auf der Bühne mit den Darstellerinnen gemeinsam Gurke? frage ich mich verwundert.
In dem Moment führte die eine Schauspielerin meinen kleinen Gurken essenden Sohn von der Bühne und verabschiedete sich von ihm mit den Worten:"Und wenn  Du mal wieder Hunger hast, dann kannst Du gerne wieder vorbei kommen!" Unter schallendem Gelächter und viel Applaus kam Marco über beide Ohren strahlend wieder zu seinem Platz zurück, wo ich ihn in Empfang nahm und immer noch nicht wusste, was geschehen war.
Mit vollem Mund erzählte mir Marco, dass die beiden schwäbischen Putzfrauen auf der Bühne angefangen hätten, ein Vesper auszupacken.Das gehörte wohl zum Sketch. Da bemerkte mein kleiner Sohn, dass er auch hungrig war und ging einfach auf die Bühne und fragte artig, ob er auch was davon abhaben könnte. Die Schauspielerinnen bauten ihn ihn einfach wie in einer SitCom schnell in ihren Sketch ein. So kam es, dass Marco ein Stück Gurke und ganz viel Applaus bekam.
Erleichtert nahm ich ihn in den Arm und lachte nun auch schallend. Das war mein kleiner Lausbub, immer für eine Überraschung gut!
Die Ausflüge waren sehr wichtig für mich. So konnte ich mich erholen und wieder Kraft für die neue, anstrengende Woche als in Vollzeit arbeitende, alleinerziehende Mutter sammeln.
Nach wie vor besuchten wir Italo in Italien. Aber mittlerweile war ich auch dazu übergegangen, meinen Urlaub nicht mehr nur bei ihm, sondern immer öfter in einer Ferienwohnung am Gardasee zu verbringen.  Italien war so etwas wie meine zweite Heimat geworden. Ich liebe heute noch dieses Land, die Menschen, die Sprache, das Essen, die Kultur und die wunderbare Landschaft, egal ob nun Berge, Seen oder das Meer. Heute noch, 26 Jahre nachdem ich das kleine Dorf San Marino di Gadesco Pieve Delmona verlassen habe, zieht es mich immer wieder in dieses Land. Ich versuche, mindestens einmal im Jahr dort ein paar Tage Urlaub zu machen.
Die Unruhe, die ich in der Stadt verspürte, brachte mich dazu, teilweise 3 mal im Jahr nach Italien zu fahren: in den Pfingstferien, in den Sommerferien und in den Herbstferien. Dafür ging natürlich mein ganzes Geld drauf. Doch das war es mir wert. Ich brauchte diese Auszeiten, ich wäre sonst eingegangen wie eine Primel. Und so gab ich auch meine Liebe zu Italien an meine beiden Kinder weiter. Auch für sie ist Italien so etwas wie eine zweite Heimat, sie sind ja auch halbe Italiener.
Vielleicht hat der ein oder andere aufmerksame Leser bemerkt, dass ich bis jetzt über vielerlei Themen meines Lebens als alleinerziehende Mutter berichtet habe, ein Thema jedoch tunlichst so gut wie vermieden habe: das Thema Männer.
Nach wie vor gab es keinen neuen Mann in meinem Leben. Natürlich vermisste ich ab und zu einen liebevollen und zuverlässigen Partner an meiner Seite. Manchmal saß ich abends traurig zuhause und sehnte mich nach einer starken Schulter zum Anlehnen. Doch ich kam einfach nicht aus der Islolation einer alleinerziehenden 2-fachen, voll berufstätigen Mutter heraus. Nach wie vor konnte ich mir einen Babysitter nicht leisten. Und auch die freien Wochenenden, die eine geschiedene Mutter normalerweise alle 2 Wochen hat, wenn der Vater die Kinder zu sich holt, hatte ich nie. Italo wohnte ja 800km entfernt und kümmerte sich in keinster Weise um seine Kinder. Ich hatte einfach keine Möglichkeit, dem Hamsterrad zu entfliehen.
Auf der Arbeit fand ich den einen oder anderen Mann mal ganz nett und war auch mal heimlich von der Ferne etwas verliebt,  ich traute mich jedoch nie, die Initiative zu ergreifen und mich dem Mann, den ich von der Weite anhimmelte, zu nähern oder ihn gar anzusprechen.
Nur einmal hatte ich einen Kollegen, mit dem ich mich sehr gut verstand und bei dem ich immer Herzklopfen bekam, wenn ich ihn sah. Bei ihm war ich mir auch sicher, dass er ähnlich fühlte. Allerdings waren wir beide zu schüchtern. Keiner von uns machte den ersten Schritt. Und eines Tages kam ich zur Arbeit und erfuhr, dass dieser Kollege im Alter von 28 Jahren völlig überraschend an einer unerkannten Herzkrankheit verstorben war. Ich konnte es nicht fassen und wurde von diesem Moment an noch zugeknöpfter. Ich konzentrierte mich noch mehr auf meine Kinder und meine Arbeit. Das war die einfachste Lösung. So hatte ein neuer Mann einfach keinen Platz in meinem Leben.
Für Marco wäre es sicher gut gewesen, wenn ich einen neuen Partner gehabt hätte, der ihm ein Vorbild hätte sein können. Doch ich kapselte mich immer mehr in meinem selbst gebauten Schneckenhaus ein und machte mich für die Männerwelt unsichtbar. Das ging ganz einfach. Ich wurde immer dicker, fraß meine Einsamkeit im wahrsten Sinne des Wortes in mich hinein und trug zu meinen besten Zeiten Konfektionsgröße 56. So nahm bald kein Mann mehr von mir Notiz und so konnte ich sicher sein, nicht wieder verletzt zu werden, weder durch Worte, noch durch Schläge oder gar durch den Tod.
Ich erfüllte meine Aufgaben, funktionierte, war für meine Kinder da. Mich selbst jedoch vergaß ich mit der Zeit. In meinem sehr kleinen Freundes- und Bekanntenkreis hatte ich den Spitznamen "Mutter Theresa". Ich hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer, war immer für die anderen da. Das war die perfekte Ablenkung von den eigenen Problemen. Ich bemerkte nicht, wie ich, Elke, als Frau und Person immer mehr verschwand.


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