Charismatisch, wortgewandt, gebildet – so mäanderte der Graf von St. Germain fast das gesamte 18. Jahrhundert durch die europäischen Salons zwischen London, Brüssel, Paris und St. Petersburg. Seine Pseudonyme sind so vielfältig wie die Geschichte über seine Herkunft – er selbst bezeichnet sich als Sohn des transsylvanischen Fürsten Franz II. Rakoczy – sowie seine Fähigkeiten und sein Alter.
Vor diesem Hintergrund treten einige charismatische Persönlichkeiten auf den Plan, die nicht nur ihre Zeitgenossen beschäftigten, sondern auch noch heute als rätselhafte Charaktere faszinieren: St. Germain war wohl der bekannteste unter ihne und soll laut einigen Geschichtsschreibern nicht nur hunderte von Jahren alt geworden, sondern auch “Lehrer” von Cagliostro und Casanova gewesen sein.
Nach zahlreichen Biografien veröffentlichte Thomas Freller jetzt im Thorbecke Verlag die “einzig moderne, wissenschaftlich fundierte Biografie über eine der schillerndsten Gestalten im Zeitalter der Aufklärung”. Freller folgt dem Grafen so verbindlich wie möglich auf seinen Wegen durch Europa, lässt Zeitzeugen und Biografen zu Wort kommen und verdichtet so objektiv wie möglich das Bild eines Mannes, der durchaus Alchemist UND Hochstapler – und noch viel mehr – gewesen sein könnte…
Weggefährten und Gönner – darunter Goethe, Madame Pompadour und Ludwig XIV, Graf Orlow und eventuell hat ihn auch Maria Fjodorowa getroffen – bewundern oder hassen ihn, beschreiben ihn als Alchemist, Künstler, Musiker, als Unternehmer, Diplomat und Geheimnisträger, als Okkultist und hochrangigen Freimaurer, kurz: als eleganten Alleskönner. Zu seinen schärfsten Kritikern gehörten übrigens Voltaire und Friedrich der Große. So bezeichnet der Philosoph den Grafen 1760 in einem Brief an den Preußenherrscher ironisch “als Mann, der alles weiß und niemals stirbt”.
Adelige und reiche Bürger in Frankreich, Österreich und Deutschland vertrauen dem Grafen große Summen an, schließlich soll er Edelsteine produzieren und verschönern, unedle Metalle in Gold verwandeln, ja Krankheiten heilen und das Leben verlängern können. So euphorisch die meisten Investoren zu Beginn gemeinsamer Projekte sind, so oft bezeichnen sie St. Germain später vor allem als Schmeichler, Betrüger und Scharlatan.
Den allermeisten ging es wohl wie dem Lyoner Freimaurer, Seidenhändler und Bankier Jean-Baptist Willermoz. Er sagt über den geheimnisvollen St. Germain: “Ich kenne die Reputation des Grafen von Saint Germain, ganz Europa kennt sie. Ich habe oft über sein außerordentliches Alter, seine großen Kenntnisse der Chemie, der Naturwissenschaften und in den okkulten Künsten sprechen gehört. Auch sind mir verschiedene berühmte Episoden seines Lebens bekannt sowie die Behauptung, er besäße das Geheimnis der Universalmedizin. Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht…”
Zu diesen “berühmten Episoden” gehören zweifellos St. Germains Friedens-Verhandlungen zwischen Frankreich und England während des Siebenjährigen Krieges – ob er von Madame Pompadour offiziell als Diplomat entsandt worden ist oder ob St. Germain sich selbst dazu ernannt hat, lässt sich aus reinem Quellenstudium nur vermuten.
Und das gilt für viele Thesen, Theorien, Behauptungen und Überlieferungen eines Menschen, der vor allem in der spirituellen Szene heute noch gefeiert und geehrt wird. Damit bin ich beim einzigen Kritikpunkt am Buch: so löblich der klare, umfassende Blick auf St. Germain auch ist, mir persönlich kommen zeitgenössische und eben spirituelle “Aktivitäten” im Zusammenhang mit St. Germain ein bisschen zu kurz. Vielleicht auch ein Vorteil, da Autoren, die wissenschaftlichen Anspruch erheben ja oft wenig objektiven Zugang zu diesem Themenbereich haben. Genau dieses Thema spielt also erst in der nächsten Rezension eine Rolle ;)
Bis dahin kann ich diese neue Biografie als spannende und auch amüsante Lektüre zum Jahreswechsel empfehlen – eine Zeit, in der man sich ja gerne mal besonders intensiv mit “Mystischem” beschäftigt.
Thomas Freller “Der Graf von St. Germain – Alchemist oder Hochstapler? Eine Biographie”, 248 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 24 Euro 99, Thorbecke Verlag