Ankunft in Huanchaco. Unter meine Hände ist ein Kribbeln gekrochen. Die Ballen sind verbrannt, sie spannen. Ich spüre noch immer den gnadenlosen Westwind, das ständige gegen den Wind lenken, das einem Schwimmen gegen die Strömung gleicht. Brummen. Der Nacken ist erschöpft, die Beine zittern, der Rücken ist verhärtet. Und wenn ich die Augen schließe, sitze ich noch immer auf meiner Kawasaki, der Helm festgezurrt, pfeifender Wind, das Visier verdreckt: 130 Stundenkilometer. Und dennoch scheint die Landschaft still zu stehen. Aber das zeigt nur, wie klein ich bin und wie langsam ich mich durch die Wüste Nordperus quäle. Wie muss ein Fußmarsch durch diese unwirkliche – unwirtliche – Landschaft sein? Soweit das Auge reicht: Dünen – gelblich, weiß, grell – vom Sand halbverschüttete Berge, Felsen, wirre Büsche, Bäume, die nie die Kraft hatten dem Wind zu strotzen. Kilometer 653, dann kommt Lima. Schwere Sattelschlepper kriechen wie Würmer dahin, fressen sich durch die Einöde. Gummigeruch. Verbranntes Benzin. Links und Rechts, einen Steinwurf von der Panamericana Norte entfernt, dicht an dicht gereiht, im Spalier, als wären sie zu ängstlich, um alleine zu stehen: Häuser. Ohne Farbe und Licht. Ohne Menschen. Normalerweise ragen Kirchtürme aus den Siedlungen, hier ragen berstende Strommasten heraus. Dörfer, wie Einsiedler – nur von Wind, Sand und nacktem Himmel umgeben. Es scheint, als würden in weiter Entfernung Pfützen auf der Straße sein. Aber sie kommen nie näher, so schnell man auch fährt, sie behalten immer den selben Abstand.
Am Nachmittag ging ich am Strand Huanchacos spazieren. Einem Strand, den ich so noch nie gesehen habe: Das graue kalte Wasser schien zu dampfen. Dichter Nebel schwamm auf der Oberfläche, gewaltige Wellen brachen aus ihm. Die Sonne wirkte wie hinter Milchglas: Fahl, diffus. Am Strand spielten die Einheimischen Volleyball, oder Fußball. Die Kinder bauten Burgen. Väter warfen ihre Kleinen, die Kleinen warfen Hunde ins kalte Nass. Andere betranken sich, andere aßen Kuchen. Gegrillte Rinderherzen, Erdbeer-Eis an den Straßenständen.
Am nächsten Tag schloss ich mich mich einer Tour an. Südlich von Trujillo – einer in mir Widerwillen und Beklemmung auslösenden Stadt – stehen die Überreste der Tempel der Moche-Kultur, jener Kultur die sich zwischen dem 1. und 8. Jdh. an der Nordküste Perus entwickelte. Beide aus Lehmziegel (spanisch: adobe) errichteten Pyramiden, die Huaca del Sol sowie die Huaca de la Luna sind die größten präkolumbischen Bauten Südamerikas. Vor allem erstere ist trotz der Zersetzung durch Wind und Wetter noch immer beeindruckend: Elf Stockwerke zählte diese Pyramide einst. Was hat es aber mit den Stockwerken auf sich? Wollten die damaligen Herrscher dem Himmel, Gott, näher sein? Mit jedem Herrscher wurde ein Tempel errichtet. Segnete jener das Zeitliche, mussten auch seine Diener, Berater und Beschützer, seine Frau und seine Konkubinen – sein ganzes Gefolge sterben, ausgenommen seine Kinder. Mit einem neuen Machthaber wurde dann ein neuer Tempel errichtet, und zwar über den alten. Dieser musste dann allerdings weitläufiger und höher werden. Mit Wachsen der Kultur wuchs als also auch das Bauwerk – aus Lehm gebrannter Fortschritt. In Huaca de la Luna haben die Archäologen mehrere dieser Pyramiden freilegen können. Typisch für diese Bauwerke sind die bunten Piktogramm-ähnlichen Darstellungen, denn eine Schrift, wie man sie heute als eine begreift, besaß die Kultur noch nicht. Was mich fortwährend beschäftigte waren die Götter-Darstellungen: Die Götter waren immer eine Symbiose verschiedener Tiere, wie Schlange, Fisch und Vogel. Sie trugen Masken, um die Mimik zu verstecken, Federn und Ohrringe. Ihre Zähne waren ähnlich den der Raubkatzen und in ihren Händen fand sich immer ein Dolch und Menschenkopf, der am langen Haar hing. Man könnte meinen, dass die Menschen die Natur selbst als Gott betrachteten: Die Natur mit ihrer Unbändigkeit, Omnipotenz, ihrer Mystik – denn einige Naturphänomene sollten erst über Tausend Jahre später erklärbar werden. Betrachten wir den Gott der Abrahamitischen Religionen: Sein Abbild ist dem Menschen gleich, er ist nicht blutrünstig oder fatalistisch – seine Strafen entspringen menschlicher Schuld. Die Moche-Kultur huldigte dem Totenkult. Zahlreiche Ausgraben zeugen von blutigen Ritualen: Sie opferten Menschen, tranken ihr Blut und erbaten sich damit fruchtbaren Regen von den Göttern, denn die Nordküste gleicht einer Wüste – aufgrund des Klimawandels, damals drastischer als heute.
Es ist eine Stimmung, die mir das Gefühl gibt, fast nichts zu sein. Hier auf der Terrasse dieses 15 Jahrhunderte alten Tempels. Ich blicke hinunter auf Mauerreste, die einst Häuser und Vorratslager für Mais, Erdnüsse, Bohnen und Chilis waren, ich blicke hinunter auf Furchen und Gräben, die einst Kanäle bildeten und Wasser aus den Hoch-Anden an die Küste transportierten. Ich blicke hinunter auf eine Stadt, die nur noch im Kopf existiert. Sie beschenkten ihren Gott. Aber nichts vermochte ihn zu besänftigen: Salzluft, El Niños, tosende Böen haben die Stadt, in der einst Zehntausend lebten, ins Reich der Imagination getragen. Wie allmächtig glaubten die Herrscher zu sein? Was ist von ihnen übrig geblieben? Nur Rätsel, Namen, Synonyme? Für wie groß halten wir uns?
Anschließend fuhren wir in den Westen Trujillos. Dort stehen die Überreste, der mit 100.000 Einwohnern, einst größten Stadt des Kontinents. Sie war die Hauptstadt der Chimú-Kultur, welche für zwei Jahrhunderte herrschte, bis sie um 1460 von den Inkas besiegt wurde. Die Zunahme der Bevölkerung lies ein Klassensystem mit Hierarchien entstehen. Die Chimú setzten Arbeitssklaven ein, um wertvolle Rohstoffe – u.a. aus Bolivien – zu gewinnen. Auf dem Höhepunkt beherbergte die Stadt Unmengen von Gold, Silber und Keramik-Kunst. Ferner wurde ein Bewässerungssystem entwickelt, mit dem die Menschen mit Süßwasser versorgt, und weit entfernte Felder bestellt werden konnten. Die Abhängigkeit des Wasser besiegelte allerdings auch das Ende von Chan Chan. Erobert wurde die Stadt nämlich nicht durch militärische Schläge, sondern durch die Umleitung von Kanälen außerhalb der Stadtmauer. Die Stadt selbst blieb unzerstört, die Inkas gierten weniger auf Reichtum, als auf Ausdehnung ihres Reiches. Die Schätze fielen den Spanien und Grabräubern zum Opfer. Der Klimawandel – das Stärker werden der Stürme und Niederschläge – tat sein übriges. Heute ist ein gehöriges Maß an Phantasie nötig, um sich die Stadt vorzustellen. Beeindruckend jedoch noch sind die Wandverzierungen: So haben wir unter anderem einen Korridor passiert. An der linken Wand waren Fische dargestellt. Diese ›schwammen‹ auf und ab mit unserer Gehrichtung. Ein von links nach rechts verlaufender Mauerrest trennte den Korridor in Süd und Nord, wir erklommen die Stufe, betraten den Nordteil, und siehe da, auf der linken Wand, waren die Fische nun entgegen unserer Gehrichtung dargestellt. Zudem waren die Fische kleiner, aber zahlreicher. Unser Führer erklärte, dass hier die Fischerei und die Meeresströmung versinnbildlicht wurde. So treffen an dieser Stelle der Pazifikküste, vom Norden her, der warme (fischreiche) Äquatorialstrom und, vom Süden her, der kalte (fischarme) Humboldt-Strom aufeinander. Die gesamte Rechte Wand war ein aus Lehm geformtes Rautengitter, welches das Fischnetz symbolisierte. An anderen Stellen dieser Anlage wurden wiederum die drei Elemente Luft, Erde und Wasser, in anderen Bereichen Vögel, Eichhörnchen, und Götter dargestellt.
Chan Chan – ein aus Lehm geschriebenes Buch, das die Zeit mit ihren Unbilden verbleichen lässt. Ein Buch, welches trotz seines Alters, wie ein Orakel gelesen werden kann. Ich verstehe, was Archäologen an ihrer Arbeit so sehr fasziniert.
Den ganzen Tag lang haben wir immer wieder den Peruanischen Nackthund gesehen. Ein Hund mit schwarzer Haut, aufgrund seiner Körpertemperatur (40°) mit nur wenigen Haarbüscheln bedacht, phlegmatisch im Verhalten, der in der traditionellen Medizin als Körperwärmer für Menschen mit Arthritis benutzt wurde.