Sprung in der Schüssel

Passend zu dem Stress-Thema macht derzeit auch die Nachricht die Runde, dass mehr als ein Drittel Hartz-IV-Empfänger einen Sprung in der Schüssel haben, also psychisch krank sind. Oder genauer: Bei den Betroffenen binnen eines Jahres mindestens einmal eine psychiatrische Diagnose gestellt wurde. Suchterkrankungen zählen ausdrücklich nicht dazu.

Dabei kann natürlich auch sein, dass längst nicht alle Betroffenen erfasst wurden, denn wenn kein Arzt aufgesucht wurde oder der Arzt eine psychische Erkrankung nicht erkennt und entsprechend nicht diagnostiziert, kann diese natürlich auch nicht erfasst werden. In der Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (hier der Link zum PDF) selbst heißt es, dass eine psychische Erkrankung nach wie vor stigmatisierend sei, weshalb Ärzte mitunter somatische Diagnosen dokumentieren und deshalb davon ausgegangen werden müsse, dass es eher noch mehr Betroffene geben müsse, als derzeit erfasst würden.

Anders herum finde ich es schon verwunderlich, dass es dermaßen viele diagnostizierte Fälle gibt – mehr als ein Drittel aller Hartz-IV-Empfänger?! Das sind ziemlich viele Menschen. Und die sollen alle psychisch gestört sein? Da drängt sich durchaus die Frage auf, ob dann tatsächlich die Leute, die aufgrund ihrer psychischen Konstitution nicht in der Lage sind, einen Job zu finden, der ihre Existenz sichert, und sich täglich zu motivieren, den auch auszuhalten, im Hartz-IV-Bezug landen – oder ob nicht vielmehr die hässliche Situation, in der man sich als Hartz-IV-Bezieher befindet, erst dazu führt, dass man psychische Störungen entwickelt.

Andererseits heißt es in der Studie auch, dass mehr als 40 Prozent der Neuzugänge in der Erwerbsminderungsrente mit einer psychischen Erkrankung begründet werden – offenbar ist die Arbeitswelt inzwischen so stressig geworden, dass immer mehr Leute sie im Kopf nicht mehr aushalten.

Wie sich ja in kürzlich besprochenen der Stress-Studie schon zeigte, macht Stress tatsächlich krank – und genau wie ein beschissener Job mit eintöniger Tätigkeit, hohem Leistungsdruck und/oder schlechter Bezahlung stresst, ist es eben auch stressig, wenn man gar keinen hat. Als Hartz-IV-Empfänger hat man sein Leben definitiv nicht selbst in der Hand und bekommt das bei jeder Gelegenheit auch unter die Nase gerieben – genau das verursacht Unsicherheit und Stress.

Davon mal abgesehen, dass das Geld nur für ein schäbiges Überleben reicht, was ja auch beabsichtigt ist, damit sich die Menschen nicht gemütlich im Nichtstun einrichten, muss ein Hartz-IV-Empfänger sich ja auch gefallen lassen, dass er sich nicht frei bewegen kann – täglich kann ein Brief mit einem unbedingt einzuhaltenden Termin kommen – und wie ich von Betroffenen weiß, kann es durchaus sein, dass der Brief erst kommt, wenn der Termin schon verstrichen ist. Manchmal braucht die Post innerhalb eines Ortes länger als außerhalb.

Dann geht der Adrenalin-Spiegel hoch: Obwohl der Termin unverschuldet verpasst wurde, kann die Behörde Sanktionen verhängen – kriegt man das jetzt irgendwie noch hin? Hat der Sachbearbeiter gut geschlafen? Und falls er oder sie schlecht geschlafen hat, wie kann ich meine Mittel strecken, dass ich nicht verhungere, falls es jetzt doch eine Kürzung gibt?! Wer unter diesen Bedienungen keine Symptome psychischer Störungen entwickelt, muss ja entweder scheintot oder anders gestört sein.

Und was fordern die fleißigen Wissenschaftler, die diese Studie geschrieben haben? Genau – Fortbildungsmaßnahmen für die Fallmanager und Jobvermittler. Natürlich ist schon irgendwie richtig, dass diese Leute in die Lage versetzt werden müssen, ein gewisses Verständnis für ihre psychisch gestörten Kunden zu entwickeln und nicht immer gleich zu vermuten, dass die Leute einfach nur faul und unmotiviert sind – und zu den entsprechenden Sanktionen greifen, was die Sache nur verschlimmert.

Andererseits ist es natürlich illusorisch, von dem ohnehin chronisch überlasteten und unterfinanzierten Personal der BA zu verlangen, dass es mehr als ein Drittel seiner Klienten mit individuellen Fördermaßnahmen und freundlicher Rundumbetreuung zur Stabilisierung der labilen Psyche wieder fit für einen maßgeschneiderten Job macht, in dem auch ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung ein paar Stunden am Tag glücklich werden kann. Wenn es solche Jobs geben würde, wäre die Leute ja weder krank, noch Hartz-IV-Empfänger.

Aber das ist wieder so typisch für diese kranke Welt: Lieber beschäftigt man vermutlich gut bezahlte Arbeitsmarktforscher damit, wie „noch passgenauere arbeitsmarktpolitische Instrumente“ zu entwickeln, mit der auch psychisch gestörte Arbeitslose systemkonform abgewickelt werden können, anstatt sich damit zu beschäftigen, wie man verhindern kann, dass immer mehr Menschen überhaupt psychische Störungen zu entwickeln. Aber dann müsste man ja die komplette wirtschaftliche und politische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte infrage stellen. Natürlich doktert man dann lieber an den Symptomen herum.



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