Sprache lügt nicht

Sprache lügt nicht: Mit LTI – Notizbuch eines Philologen hat der Romanist Victor Klemperer die Sprache des Dritten Reiches (Lingua Tertii Imperii) analysiert. Mit der Abkürzung parodierte er den Abkürzungsfimmel der Nazis (SS, SA, HJ, BDM, KDF und so weiter), gleichzeitig fand er damit eine Art Geheimformel für seine Notizen, in denen er seine alltäglichen Beobachtungen und Erfahrungen eines ausgegrenzten, ständig der Verfolgung ausgesetzten jüdischen Gelehrten in Nazideutschland festhielt. Der Romanistik-Professor, der sich selbst als konservativen, deutschen Protestanten definiert, der trotz seiner Kenntnisse der französischen (spanischen, italienischen) Literatur nur deutsch denken und deutsch schreiben könne und deshalb auch nicht wisse wohin, wenn man ihn aus Deutschland vertriebe, bleibt trotz aller Repressionen in Dresden, auch nachdem man ihn wegen seiner jüdischen Herkunft die Professur an der TU Dresden genommen hat, später das mühsam für seine Frau zusammengesparte Haus mit Garten, das Auto, selbst die Katzen.

Spruch im Fenster der Bundesbehörde zur Aufbewahrung der Stasi-Unterlagen.

Spruch im Fenster der Bundesbehörde zur Aufbewahrung der Stasi-Unterlagen.

Unglaublicherweise überleben Klemperer und seine (arische) Frau den Krieg – es ist wirklich erschütternd, die Tagebücher zu lesen, in denen auch die Vorarbeiten zu LTI aufgezeichnet sind. Wenn man sich heute fragt, wie es dazu kommen konnte, dass sich ein Volk dermaßen gleichschalten, verführen, verrohen lässt – die Antworten sind naheliegend und unbequem. Es ist eine Mischung aus Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen, Eigentlich-Besser-Wissen und Opportunismus, berechnendem Stillhalten, verbohrter Besserwisserei, dumpfen Beharren, Verdrängung, Leidensfähigkeit und Angst. Die Nazis waren bekanntermaßen keineswegs zimperlich – seit den 20er Jahren waren bewaffnete Naziverbände auf den Straßen präsent, die ihre Gegner mit roher Gewalt eingeschüchtert oder gleich umgebracht haben und sich darauf verlassen konnten, dass sie für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen würden.

Um so erschreckender ist es, festzustellen, dass heute gleichfalls ein unglaublicher Konformitätsdruck herrscht, wo wir doch angeblich in Freiheit und Pluralismus leben. Zwar wird formal ständig von Individualismus und Selbstverwirklichung geredet, praktisch beschränkt sich die persönliche Freiheit auf die Wahl des Fernsehsenders für die Abendberieselung – was hat man denn auch für eine Wahl, wenn man die meiste Zeit des Tages damit verbringen muss, irgendwie Geld für den Lebensunterhalt heran zu schaffen?! Der Einkauf im Bioladen wird zum politischen Statement, genauso wie das Tragen eines oder keines Fahrradhelms. Irrationales Sicherheitsbedürfnis in allen Beziehungen. Neuerdings werden Kinderbücher auf korrekte Sprache überprüft.

Genauso, wie die LTI durch Hitlers Gegröle und endlose Wiederholungen der immer gleichen Phrasen in Radio und Wochenschau in die Köpfe der Menschen getrieben wurde, sickert die Sprache des globalen, totalen Kapitalismus ins Hirn – subtiler, aber “alternativlos”. Bei uns ist niemand arm, aber es gibt “gefühlte Armut” und “Bildungsverlierer”. Damit die Milliarden, die durch und gegen die Krise verbrannt werden, irgendwie herein kommen, braucht es einen “flexiblen Arbeitsmarkt” (also Billig- und Billigstlöhne, außerdem schickt die Arbeitsagentur junge Frauen ins Bordell und junge Männer in den Krieg) und ein “Wachstumsbeschleunigungsgesetz” sowie “Rettungsroutinen”. Die ganze Gesellschaft befindet sich im permanenten “Stresstest”, wobei den Leuten ein ausgeprägtes “Anspruchsdenken” unterstellt und mehr “Eigenverantwortung” empfohlen wird. “Schlecker-Frauen” finden keine “Anschlussverwendung”, dafür wird “Burnout” zur “Volkskrankheit”. Politiker “guttenbergen” sich Titel zusammen und “wulffen” sich bei guten Freunden durch, während ein “Shitstorm” nach dem anderen durch die in fröhlichen Einheitspluralismus verfallene Medienlandschaft schwappt. Insofern wundert mich gar nicht, dass eine Alzheimer-Epidemie auf uns zu rollt: Wir stecken schon längst mittendrin.



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