Spielberg-Retro #18: "Lincoln" [USA 2012]


"Lincoln" irritiert: Für Spielberg-Verhältnisse vergeht eine ungewöhnlich lange Zeit, ehe das (hierfür eigentlich prädestinierte) Pathos zuschlägt. Die Überproduktion an Gefühlsentladungen, die Anhäufung von überdramatischen Ausschreitungen – alles ist zunächst verkleinert und streng nach Vorschrift proportioniert. Ein wertfrei erzählter Spielberg scheint sich erstmals anzukündigen, ausgerechnet einen uramerikanischen Legendenstoff unamerikanisch auf popkulturverträgliches Miniformat einzustampfen, große Teile des Publikums Geschichtswissen leichtverdaulich zu verkaufen. 
"Leichtverdaulich" allerdings auch nicht unbedingt. Dafür flirtet der Film in den ersten erzählerischen Zuckungen mit der Redundanz seiner üppigen Anekdoten im undurchschaubar vernetzten Politik-Rummel schlichtweg zu ausführlich und tempodrosselnd, dass es praktisch klebrig wirkt; mit der Akribie seiner Requisiten und einer Ausstattung vor allem, in der jedes Detail überprüft wurde, damit es die Bescheiden- und Kargheit des Raumes unterstreicht, um sich voll und ganz auf die zwischenmenschliche Debatte darin zu konzentrieren. So natürlich und nuanciert wie Daniel Day-Lewis den titelgebenden Präsidenten ohne egomanische Ausfallserscheinungen, aber voll an warmherziger Güte verkörpert, so entschleunigt und nüchtern inszeniert Spielberg historisches, auch universell zu lesendes Aufklärungskino über die widersprüchliche Komplexität der gesetzmäßigen Richtigkeit in demokratischen Staatsapparaten, das gekonnt eine Symbolfigur mythologisch festigt, indem es sie ausschließlich in strengen Licht- und Schattengegensätzen (wie immer: Janusz Kaminski) herausstellt. 
Der (womöglich unbeabsichtigte) Sinn dahinter dürfte sein: Lincolns ehrbare Motive, in politischer Überzeugungsarbeit, die nicht immer den Weg des Legalen einschlugen (Schatten), dafür zu kämpfen, die Sklaverei abzuschaffen (Licht), resultiert weniger aus nachvollziehbaren Gründen, als aus jenen, die rudimentär in der Schwebe hängen und im Dunkeln verborgen sind, weil Lincoln an die bloße Funktionalität dessen geglaubt hat, was er durchsetzen wollte. Nach "Lincoln" wird einem Abraham Lincoln deshalb vermutlich kein Stück näher gekommen sein, weil Spielberg die Ambiguität einer Respektperson vorzugsweise inhaltlich ausspart, die sich auf das gleichzeitig Menschliche wie Couragierte beschränkt, aber den Schatten nicht ausreichend (!) artikuliert. 
Spätestens in diesem Aspekt verklärt Spielberg zum wiederholten Male eine tragische Gestalt revisionistisch zur immerwährend strahlenden Lichtgestalt, zur behaupteten Ikone, die eine beweiskräftige Ikone im amerikanischen Selbstverständnis sein muss; im Kino, das jetzt zum konservativen Spielberg-Kino mutiert ist. Zwischen unzähligen Interessen und Konflikten (faszinierend die Kompassmetapher sowie die Euklid-Diskussion), die einander schneiden und konkurrieren, zeigt Spielberg die beiden daraus hervorgegangenen Schlüsselszenen überraschenderweise nicht aus der Nähe, da weder der Ausgang der geglückten (imponierend pathetischen) Abstimmung des gesetzlichen Sklavenverbots noch das tödliche Attentat im Theater direkt veranschaulicht werden. Den Ausgang gestaltet Spielberg per Glockenton, wenn der Präsident – und das ist ein weiteres Indiz für die Strategie Spielbergs, Lincoln zu idealisieren – am Fenster zwischen den Vorhängen steht, die ihn engelsgleich verhüllen, während der Tod Lincolns zuerst im Gesicht seines Sohnes, also eines Kindes, beklemmende Unbegreiflichkeit erfährt. Dann hat Spielberg ungewohntes Territorium endgültig verlassen, die Emotion lässt alle Dämme brechen. Entladung… jetzt!  6 | 10

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