© Studiocanal - Jordan Prentice, Joey Gnoffo, Sebastian Saraceno, Lily Collins, Martin Klebba, Mark Provinelli, Ronald Lee Clark & Danny Woodburn (von links nach rechts)
In diesem Jahr feiert das Märchen ‚Schneewittchen’ von den Gebrüdern Grimm sein 200. Jubiläum. Mit der Erstausgabe von 1812, wo die Figur noch „Schneeweißchen“ hieß, wurde eine klassische Geschichte geschaffen, die bereits über dreißig Mal verfilmt wurde: ein Stummfilm von 1916 bildet den Anfang, gefolgt von Walt Disney mit der wohl bekanntesten Version und zugleich ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm. Auch die Augsburger Puppenkiste nahm sich bereits der Schneewittchen-Geschichte an, ebenso wie eine 52-teilige Fernsehserie aus Japan. Jetzt kommen die Kinogänger in den Genuss von gleich zwei Filmen, die auf der Geschichte des Mädchen beruhen, dessen Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz sind. Während die dunklere Verfilmung ‚Snow White and the Huntsman’ erst Ende Mai in den deutschen Kinos zu sehen sein wird, begibt sich Regisseur Tarsem Singh mit ‚Spieglein Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen’ bereits jetzt in die märchenhafte Welt der Gebrüder Grimm.
Und seine Geschichte beginnt mit der bösen Königin (Julia Roberts), die ihre Sicht der Dinge gerne einmal schildern möchte: Fernab von ihren Problemen mit faltiger Haut oder der Ebbe in der Staatskasse, plagt sie sich in erster Linie mit ihrer Stieftochter Schneewittchen (Lily Collins) herum, die schöner sein soll als die Königin. Und damit hat der Zauberspiegel auch Recht. Als dann auch noch der schöne Prinz Alcott von Valencia (Armie Hammer) ein Auge auf das Mädchen wirft, steht fest, dass Schneewittchen von der Bildfläche verschwinden muss. Sie wird in den Wald verbannt, wo sie auf die Sieben Zwerge trifft, die sich hier als Gelegenheitsdiebe durchschlagen. Gemeinsam schmieden sie einen Plan um die Herrschaft der bösen Königin zu beenden und Schneewittchen mit dem Prinzen zu vereinen.
Julia Roberts als böse Stiefmutter & Lily Collins als Schneewittchen
Und da sind sie auch schon, die typischen Elemente des Märchens, das vor allen durch Disney in der Filmwelt bekannt geworden ist. Der Liebe wahrer Kuss, der vergiftete Apfel, die Sieben Zwerge, Prinz Charming und das unterdrückte Königreich finden sich bei Tarsem Singh alle wieder – und doch hat er seiner ‚Schneewittchen‘-Interpretation einen eigenen Touch verpasst. Wer die vorherigen Arbeiten des Regisseurs kennt, wird seinen Stil bereits kennen und doch überrascht sein. Im Gegensatz zum Psychothriller ‚The Cell‘, der Fantasygeschichte ‚The Fall‘ oder dem Actionspektakel ‚Krieg der Götter‘ scheint Singh einen geradezu harmlosen Film inszeniert zu haben. Gerade hier hätte er mit den bunten Bildern und den imposanten Bildkompositionen arbeiten können, mit denen sich seine Filme bisher aus der Masse abheben konnten. Aber dieses Mal hält er sich dezent zurück. Immer noch erschafft er kleine Hingucker, zu denen die himmelausfüllenden Wolkengebilde oder die extravaganten Kostüme der Protagonisten gehören.
Damit richtet sich ‚Spieglein Spieglein‘ an ein ganz anderes Publikum, als man es von Tarsem Singh gewohnt ist. Es ist ein Film für die lieben Kleinen geworden, den der gebürtige Inder dort geschaffen hat. Hier macht sich durch die Musik des Komponisten Alan Menken eine märchenhafte Atmosphäre breit, die durch die Unterstützung der Bilder dann auch die Grimmsche Märchenwelt zum Leben erweckt. Hätte Singh erneut so abstrakt bildlich gearbeitet wie bisher, wäre so manches Kinderhirn überfordert gewesen. So passt sich der Regisseur aber seiner Zielgruppe an und macht aus ‚Schneewittchen‘ genau das, was es sein soll: Ein Kindermärchen.
Armie Hammer als Prinz Alcott von Valencia
Zu diesem Zielpublikum passen dann auch die neuen Gesichter Lily Collins, Tochter von Sänger Phil Collins, und Armie Hammer, der bereits mit großen Regisseuren wie David Fincher (‚The Social Network‘) und Clint Eastwood (‚J. Edgar‘) zusammen arbeiten durfte. Collins überzeugt hier in ihrer ersten Spielfilm-Hauptrolle. Sie spielt das zurückhaltende Schneewittchen unsicher und verstört. Mit zaghaften Reh-Augen verkörpert sie die unterdrückte Stieftochter, die von den Sieben Zwergen ein paar Tricks zur Selbstverteidigung lernen darf und dennoch nicht zur Kampf-Amazone mutiert, sondern viel mehr zu einer selbstbewussteren Schneewittchen heranwächst. Armie Hammer zeigt derweil sein komödiantisches Talent, empfiehlt sich zeitgleich auch als wirklich charmanter, gutaussehender Prinz Charming, der mit nackten Oberkörper die Blicke von Julia Roberts erhaschen kann, aber auch zum Liebesobjekt für Schneewittchen wird. Die beiden Damen würden sich über die Armie Hammer-Zwillinge aus ‚The Social Network‘ sicherlich freuen, müssen aber hier in einen erbitterten Kampf gegeneinander um die Gunst dieses Mannes antreten. Schneewittchen mit der puren Kraft der Liebe, die böse Königin und Stiefmutter mit Hexerei. Welche Kraft sich dabei als die Stärkere herausstellen wird, dürfte keine große Überraschung sein.
Wo die Jungstars überzeugende Leistungen abliefern, leidet Julia Roberts unter der Figurenzeichnung ihrer bösen Stiefmutter. Diese erinnert viel mehr an eine schlechte Version Carrie Bradshaws aus ‚Sex and the City‘ als an ein starkes, hinterhältiges Gegenstück zur Gutmütigkeit Schneewittchens. Sie verliert sich in ihrem Kleiderwahn, dem Anprobieren von Schuhen und dem Angaffen von ihrem begehrten Prinz. Das Drehbuch hat wohl eine selbstverliebte Furie vorgesehen, Julia Roberts macht hieraus eine zickige Teenagerin. Aber das mildert den Spaß an dieser märchenhaften Welt nur wenig, in der Tarsem Singh seiner Fantasie freien Lauf gelassen hat. Hier bewegen sich die sieben kleinen Waldräuber auf Ziharmonika-Stelzen, um zu riesigen Zwergen zu werden und Marionetten bekommen durch Hexerei ein Eigenleben um als gruselige Attentäter die Zwerge zu jagen.
In ‚Spieglein Spieglein‘ muss nichts dunkler, finsterer oder erwachsener gemacht werden um diese ‚Schneewittchen‘-Verfilmung zu einem Erlebnis für die Jungen und Junggebliebenen zu machen. Es ist die gelungene Modernisierung eines altbewährten Märchens.
Denis Sasse