Was soll er nur mit dem Rettungsersuchen tun? Jetzt? Später? Oder vielleicht gar nicht? Mariano Rajoy kann sich nicht entscheiden und wird von allen Seiten getrieben. Die Opposition, Berlin, die EU, die EZB, alle zerren an ihm. Und dann ist da noch die Galizien-Wahl. Kann er die Entscheidung noch bis Ende Oktober aufschieben? – Solch ein Problem hätte Artur Mas jetzt gern. Ein einziges Problem, auf das man sich konzentrieren kann. Doch der Regierungschef Kataloniens muss an vielen Fronten kämpfen – und er hat sie sich fast alle selbst eingebrockt.
Spaniens Regierungsmannschaft ist innerlich zerstritten. Wirtschaftsminister Luis de Guindos, der Ex-Lehman-Banker, würde das Rettungsersuchen am liebsten sofort in Brüssel einreichen. Er glaubt, die Zinsen würden deutlich sinken, wenn die Zentralbank spanische Anleihen kaufte. Die EZB sendet dann auch deutliche Signale aus und will Spanien unter den Rettungsschirm drängen. Doch sein Chef, Premierminister Mariano Rajoy, hat klare Anweisungen gegeben: De Guindos soll alles vorbereiten und perfekt aushandeln für das Rettungsersuchen in Brüssel, aber eingereicht wird es vorerst nicht. Guindos bereitet also vor, was der Regierungschef nicht wirklich will. “Ideal wäre es, es nicht zu brauchen”, lautet derzeit die Devise in Madrid.
Bei dieser Entscheidung - oder besser nicht-Entscheidung – spielen etliche Faktoren eine Rolle. Viele Beobachter sind sicher, dass Rajoy die Rettung nach der Galizien-Wahl beantragen wird, wie er den Staatshaushalt erst nach der Andalusien-Wahl präsentiert hatte. Das spielt eine Rolle, aber nicht allein. Finnlands Regierungschef hatte gerade noch in Madrid angekündigt, er werde harte Garantien fordern, wenn Rajoy jetzt den Antrag stellt. Trotz widersprüchlicher Aussagen aus Berlin will auch Angela Merkel kein spanisches Hilfe-Ersuchen, das sie schon wieder durch den Bundestag peitschen müsste. Mariano Rajoy bekommt ausserdem aktuell mehr Zeit zum Denken und zum Verhandeln durch die gesunkene Risikoprämie.
Frankreich dagegen drängt Madrid, Brüssel jetzt um Hilfe zu bitten. Hollande wie Monti in Italien hätten Spanien gerne als Wellenbrecher und sind überzeugt, die Zinsen würden danach auch in ihren Ländern sinken, weil “die Märkte” ständig mit einer weiteren EZB-Intervention rechnen müssten. Doch Rajoy zögert. Er will so viel Zeit wie möglich nutzen, um die Bedingungen einer “Rettung” zu verhandeln, um zu erreichen, dass Madrid keine weiteren Auflagen aus Brüssel bekommt, was sich als politischer Sieg verkaufen liesse. Und vielleicht, so glaubt man, käme man ganz am Rettungsersuchen vorbei mit ein bisschen Glück. Doch dieser Plan kann schnell explodieren: durch eine neue Griechen-Krise, schlechte Wirtschaftsdaten, die Erkenntnis, dass Spanien das Defizitziel nicht erreicht, Probleme in den Regionen, irgendeine Bank … deswegen bereitet man leise alles vor für den Tag X.
Noch klingt die Bankenrettung aus dem Juni nach: Wochenlang hatte man sie dementiert, noch am Vortag, und dann bei der Videokonferenz der Eurogruppe doch den Antrag gestellt. Jetzt hat man die Strategie geändert. Die Staats-”Rettung” wird nicht mehr ausgeschlossen, weil das Vorteile verspricht: Der Anschein der bevorstehenden “Rettung” könnte die Märkte beruhigen. Bei der Budget-Vorstellung am 27. September wird man mit harten Massnahmen versuchen, die Kritiker, inbesondere “die Märkte”, zu beruhigen. Wenn das klappt, ist Zeit gewonnen. Wenn nicht, ist der Antrag an Brüssel sehr nah. Doch spanische Firmen und Banken drängen schon jetzt, sie haben grosse Probleme mit der Finanzierung.
Das ist derzeit Rajoys einziges Problem, absorbiert seine ganze Aufmerksamkeit. Artur Mas geht es viel schlechter. Der Regierungschef Kataloniens hat einen ganzen Sack voll Probleme und versucht mit einem regelrechten Eiertanz der bösen Falle zu entkommen, die er sich zudem ohne Not selbst gestellt hat. Dabei hatte er doch nur das getan, was alle Regierungschefs Kataloniens seit Jahrzehnten tun: Man droht mit der bösen Unabhängigkeit *schuhuuu* und sorgt damit für Wohlverhalten in Madrid und Geld aus Madrid. War noch nie anders, ging doch immmer – wie konnte das diesmal nur so schieflaufen?
Seinen Fiskalpakt wollte Artur Mas mit Mariano Rajoy aushandeln – und wenn nicht, dann müssten wir leider *schuhuuu* die Loslösung von Spanien anstreben. Gähnfaktor zehn, so läuft das seit dem Ende der Franco-Diktatur, kennt jeder, regt längst niemanden mehr auf. Klar, dann kann man auch mal eine Unabhängigkeitsdemo anzetteln, gibt der Sache Nachdruck. Doch dann, und das ist neu, kamen mehr als eine Million Demonstrierer in Barcelona zusammen und die Sache erhielt eine ganz andere Dimension. Plötzlich war aus Spass Ernst geworden. Artur Mas hätte am liebsten gesagt “Hey, tranquilos, wir wollen doch nur spielen, wie immer”, doch das ging jetzt nicht mehr. Der Regierungschef Kataloniens war nun gezwungen, die Demo und den Unabhängigkeitswunsch nach aussen tatsächlich zu vertreten.
Die neue Lage überforderte ihn zunächst komplett. Ja genau, er vertrat jetzt die Unabhängigkeit, was blieb ihm anderes übrig. Aber das mit dem Erpressungpotential gegenüber Madrid funktionierte nicht mehr so wie früher. Artur Mas liess Rajoy wissen: Wenn ich den Fiskalpakt nicht bekomme, sagen wir uns morgen von Spanien los; wenn ich ihn bekomme, erst übermorgen. – Halt, warte, bekam er zur Antwort, was soll denn das für eine Verhandlungsbasis sein, lass dich doch nicht auslachen. Wenn du etwas von uns willst, dann doch nur, wenn du begriffen hast und akzeptierst, dass es Spanien besser geht mit Katalonien und Katalonien besser mit Spanien. Denn sonst …
Danach fielen Artur Mas ein paar Dinge wieder ein, die er “vergessen” hatte. Zum Beispiel, dass es gar nicht so witzig ist, den Nachbarn zu verärgern, von dem man gerade dringend fünf Milliarden Euro braucht, weil man sonst nicht einmal mehr Beamten-Gehälter zahlen kann. Und die 400 Familien, die Katalonien schon seit Ewigkeiten steuern, erinnerten Mas daran, dass man die Unabhängigkeitsdrohung zwar braucht, um Geld und Macht aus Madrid abzuziehen, aber doch bitte nicht mehr als eine Drohung! Niemand wolle eine Grenze und Visumpflicht zwischen Katalonien und dem Mutterland Spanien, in das man unendlich viele Waren verkauft. Kleinstaat Katalonien, möglichst noch ohne EU-Zugehörigkeit? Na, bitte wirklich nicht!
Jetzt rotiert Artur Mas wie ein schwangerer Helikopter. Einerseits soll er einen möglichst günstigen Sozialpakt mit Rajoy aushandeln, was der Regierungschef in Madrid nur akzeptiert, wenn Mas die Unabhängigkeit weiterhin als leere Poker-Drohung behandelt. Andererseits ist da jetzt ein wahrnehmbarer Teil der über viele Jahre indoktrinierten Bevölkerung Kataloniens, der die Taktik missinterpretiert und in Massen demonstriert hat. Gerade die Jugend, die die Transition nach der Franco-Diktatur nicht erlebt hat und von den Nationalisten von Geburt an geimpft wurde, hat das Spiel ernstgenommen. Und zum guten Schluss ist da das Grosskapital Kataloniens, das sich jetzt die Haare rauft und sich fragt, wie man die Geister, die man so lange gerufen hatte, nun wieder los wird.
Wie das ausgeht, weiss niemand. Normalerweise müsste man sich jetzt an einen Tisch setzen. Zum Beispiel 2013 anlässlich der Neuverhandlung der Länderfinanzierung, die alle fünf Jahre ansteht. Miteinander reden, eine neue Basis aushandeln, ruhig und besonnen. Doch niemand traut das dem aktuell handelnden politischen Personal wirklich zu, weder in Madrid noch in Katalonien. Vor allem nicht inmitten einer schlimmen Krise, die die Situation zusätzlich faktisch verschärft und emotional auflädt. Deswegen kann jetzt wirklich alles passieren, wemn Artur Mas kein Patentrezept findet, aus der beinahe ausweglosen Lage, in die er sich selbst manövriert hat, wieder herauszufinden. Das allerdings soll ihm schwerfallen.