Sozialstaat reformieren statt abbauen – Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen

Dieser Aufruf von über 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erschien als Anzeige in der Frankfurter Rundschau vom 23.05.2003 und hat nicht an Aktualität verloren. Anmerkungen sind kursiv geschrieben.
Mit den in der "Agenda 2010" angekündigten Maßnahmen will die rot-grüne Bundesregierung die Bundesrepublik bis zum Ende des Jahrzehnts aus der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise führen. Die Blockaden der letzten Jahre sollen überwunden, die Wirtschaft belebt und vor allem Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir bezweifeln aber, dass die Ansätze tatsächlich geeignet sind, diese Ziele zu erreichen. Im Wesentlichen konzentriert sich die Agenda 2010 auf drastische Leistungskürzungen in den sozialen Sicherungssystemen. Dazu zählen vor allem die Kürzung der Dauer des Arbeitslosengeldes, die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, Verschärfung von Zumutbarkeitsregelungen, Ausgliederung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung, Aufweichungen des Kündigungsschutzes sowie die nochmalige Absenkung des Rentenniveaus. Der Opposition, den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden, vielen wissenschaftlichen Beratungsgremien sowie weiten Teilen der Medien gehen diese Einschnitte noch nicht weit genug. Unter der Devise „Weniger Sozialstaat = mehr Beschäftigung“ hat ein Wettlauf um den Abbau der Kernelemente des Sozialstaats eingesetzt. So wollen CDU/CSU in den anstehenden Verhandlungen mit der Regierung Eingriffe in Tarifvertragsgesetz und Tarifautonomie sowie die Absenkung der Sozialhilfe durchsetzen.
Wir widersprechen dieser Politik, weil die angekündigten Maßnahmen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht beseitigen werden. Eine Politik, die auf der einen Seite mit den falschen Rezepten operiert, auf der anderen Seite dem Druck konservativer Lobbygruppen nachgibt, ist weder mutig noch reformorientiert. Die geplanten Einschnitte verletzen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und gefährden die Substanz des Sozialstaates, schaffen aber keine Arbeitsplätze. Wir widersprechen der These, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar und die Ursache von
Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit sei.
In der Tat gibt es keinen Zusammenhang zwischen Ausgaben des Sozialstaates und Wachstumsschwäche bzw. Arbeitslosigkeit wie folgende Zahlen belegen.
Sozialstaat reformieren statt abbauen – Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen
Seit 2005 sind die Ausgaben in % des BIP annähernd unverändert geblieben.
Die Statistiktricks der Bundesagentur für Arbeit bilden nicht die Realität ab. Offiziell sind 3,05 Millionen Menschen arbeitslos, ALGI- und ALGII-Leistungen beziehen jedoch 5,4 Millionen Menschen.
1995 wurden von Erwerbstätigen 57,78 Milliarden Arbeitsstunden geleistet, 2005 55,77 Milliarden und 2011 57,88 Milliarden Stunden.

Die Gewinnentwicklung der DAX-Konzerne ist in 2005, 2006 und 2007 förmlich explodiert.
Sozialstaat reformieren statt abbauen – Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen
Der eingeschlagene Weg führt in die falsche Richtung, weil der Politik eine falsche Krisendiagnose zu Grunde liegt.
Die andauernde Massenarbeitslosigkeit ist die Folge fehlender Arbeitsplätze und nicht die Folge fehlender Arbeitsbereitschaft. Wer glaubt, die Arbeitsmarktkrise durch noch mehr Druck auf die Arbeitslosen zu lösen, bekämpft die Arbeitslosen, aber nicht die Arbeitslosigkeit. Die Kürzungen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe führen zu gravierenden Einkommenseinbußen bei den Arbeitslosenhaushalten und verschärfen das ohnehin schon hohe Armutsrisiko der Betroffenen.
Eine Politik, die Arbeitslose unter dem Druck der materiellen Verhältnisse dazu treibt, Arbeit „um jeden Preis“ anzunehmen, fördert die Ausbreitung einer Niedriglohnökonomie auch in Deutschland. Eine solche Entwicklung steht im Widerspruch zum dringend notwendigen Ausbau qualifizierter Dienstleistungen und führt zu problematischen Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt, nicht aber zu insgesamt mehr Beschäftigung. Besser bezahlte, gesicherte Arbeit wird durch schlechter bezahlte, prekäre Arbeit ersetzt. Die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigungsverhältnisse insgesamt werden gefährdet.
Die Aufweichung des Kündigungsschutzes wird das ohnehin reduzierte Schutzniveau in Kleinbetrieben noch weiter herabsetzen, ohne dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies zeigen die Erfahrungen der Jahre 1997 und 1998. Ein beliebiges Unterlaufen tarifvertraglicher Regelungen durch betriebliche Vereinbarungen würde die zentrale Funktion des Flächentarifvertrags außer Kraft setzen, Mindeststandards für Arbeits- und Einkommensbedingungen zu garantieren.
Die Ursachen für die gegenwärtige Finanzkrise liegen nicht im sozialstaatlichen System und dessen vermeintlich zu üppigen Leistungen. Die Finanzierungsdefizite sind in erster Linie Folge der Finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialversicherung sowie der chronischen Arbeitsmarktkrise. Die steigende Arbeitslosigkeit führt zu erhöhten Ausgaben und sinkenden Beitrags- und Steuereinnahmen. Zur Finanzkrise hat aber auch die Steuerpolitik der letzten Jahre beigetragen, die die Entlastungen auf die Unternehmen, hohen Einkommen und die Vermögensbesitzer konzentriert hat. Insbesondere die Einnahmen aus Gewerbesteuer, Körperschaftsteuer und veranlagter Einkommensteuer sind eingebrochen.
Die Finanzierungsprobleme und die steigenden Beitragsbelastungen in den Systemen der sozialen Sicherung werden durch Leistungsausgrenzungen (mit Verweis auf die private Vorsorge) oder verstärkte Zuzahlungen (Praxisgebühr, Arzneimittel usw.) nicht beseitigt. Es kommt dadurch lediglich zu einer Verlagerung der Finanzierung zu Lasten der Versicherten und vor allem der Kranken. Hinzu kommt, dass sich die Beitragszahlungen bei Privatversicherungen nach dem individuellen Risiko richten – ohne Berücksichtigung der Einkommens- und Familienverhältnisse. Es käme zu Unterversorgungen gerade jener Gruppen der Gesellschaft, die wegen ihrer Arbeits-, Lebens- und Einkommensbedingungen besonders hohe Gesundheitsrisiken tragen. Auch die Finanzierung des Krankengeldes allein durch die Versicherten ändert nichts an der Ausgabenentwicklung im Gesundheitssystem, sie ist ausschließlich eine Umverteilung zu Gunsten der Unternehmen und höhlt das Prinzip der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus.
Mit dem eingeschlagenen Weg werden das Sozialstaatsprinzip und die Grundlagen einer auf den sozialen Ausgleich gerichteten Gesellschaftsordnung gefährdet. Wir widersprechen der Behauptung, dass diese Einschnitte „alternativlos“ sind. Ein hohes Beschäftigungsniveau und ein ausgebauter Sozialstaat müssen – wie Beispiele aus europäischen Nachbarländern zeigen - keine Gegensätze sein. Um das zu erreichen, sind jedoch Maßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Arbeitsmarkt und Sozialpolitik notwendig, die den Namen „Reform“ tatsächlich verdienen. Dazu zählen insbesondere folgende Punkte:
Um die Arbeitslosigkeit abzubauen und den Sozialstaat zu sichern, ist eine Umkehr in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zwingend erforderlich. Die öffentlichen Investitionen müssen ausgebaut statt gekürzt werden. Durch ein öffentliches Investitionsprogramm können die überfällige Modernisierung von Infrastruktur und Umwelt sowie der Ausbau des Bildungssystems in Angriff genommen werden. Dies schafft kurzfristig Arbeitsplätze und sichert mittel- und langfristig die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Statt durch Sozialleistungskürzungen die Kaufkraft gerade in den unteren und mittleren Einkommensbereichen zu begrenzen, bedarf es einer Stabilisierung und Erhöhung des privaten Konsums.
Ein ausgebauter Sozialstaat kann kein „billiger“ Staat sein. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Die Belastungen durch Steuern und Abgaben müssen sich aber nach der finanziellen Leistungsfähigkeit richten. Erforderlich ist deshalb eine Steuerreform, die sich am Maßstab sozialer Gerechtigkeit orientiert und Unternehmen sowie hohe Einkommen und Vermögen wieder stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben beteiligt.
Gerade in der Arbeitsmarktkrise bedarf es der Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Es ist notwendig aber nicht ausreichend, die Arbeitsverwaltung und Arbeitsvermittlung zu effektivieren. Der 2. Arbeitsmarkt und die Bildungsförderung dürfen nicht weggeschlagen, sondern müssen weiterentwickelt werden. Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe muss ohne die angekündigten Leistungseinbußen geregelt werden.
Statt der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der angekündigten Heraufsetzung von Altersgrenzen und Rentenabschlägen bedarf es einer veränderten, altersgerechten Personalpolitik der Unternehmen. Wenn die Frühausgliederung gestoppt und Ältere länger im Arbeitsleben verbleiben sollen, dann sind dafür in den Betrieben und Verwaltungen zunächst die Voraussetzungen zu schaffen.
Allein durch Wachstum lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht abbauen. Der gegenwärtige Stillstand in der Arbeitszeitpolitik muss überwunden und durch unterschiedliche Formen individueller und allgemeiner Arbeitszeitverkürzungen abgelöst werden. Ziel muss es sein, das begrenzte Erwerbsarbeitsvolumen auf mehr Menschen zu verteilen. Dazu gehört aber auch, die Nicht-Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern egalitär aufzuteilen.
Die Sicherung der Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems erfordert zum einen ein sozial gerechtes Ausschöpfen der Rationalisierungsreserven. Qualität und Effizienz der Systeme müssen erhöht und die Risikoprävention gestärkt werden. Zum andern ist ein solidarisches Sicherungssystem auf Dauer nur tragfähig, wenn auch die gesamte Bevölkerung zu seiner Finanzierung beiträgt. Angesichts der Finanzierungsprobleme insbesondere bei der Renten- und Krankenversicherung muss der Weg in Richtung einer allgemeinen Erwerbstätigenversicherung eingeschlagen werden, bei der das gesamte Einkommen Maßgröße für den Finanzierungsbeitrag ist.
Die Entwicklung seit 2003 bestätigt die Einschätzungen der WissenschaftlerInnen. Die Steuer-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik unter Schröder/Fischer wurde von Merkel weitergeführt und kann nur als desaströs bezeichnet werden. Gab es 1991 erst eine Tafel (in Berlin), so sind es 2013 bereits über 1.000 Tafeln die täglich Arme versorgen. Man kann von einer schleichenden Privatisierung des Sozialen reden, wobei der Einzelhandel erheblich profitiert, da hohe Entsorgungskosten wegfallen.
Altkanzler Schröder rühmt sich, den größten Niedriglohnsektor in Europa aufgebaut zu haben. Das betrifft nicht nur die in diesem Bereich Tätigen, sondern alle Bürger, da seit 2005 über 60 Milliarden Euro an so genannte Aufstocker geflossen sind.
Ein Umdenken in der Politik ist nicht erkennbar. Eine dringend notwendige Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist noch immer ein Tabu.

Unterzeichner
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Dr. Heike Walk, Berlin
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Prof. Dr. Harald Wilde, Stralsund
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Prof. Dr. Werner Winzerling, Fulda
PD Dr. Frieder Otto Wolf, Berlin
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Prof. Dr. Jürgen Wolf, Magdeburg-Stendahl
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Prof. Dr. Margherita Zander, Münster
Prof. Dr. Dieter Zimmermann, Darmstadt
Prof. Dr. Norbert Zdrowomyslaw, Stralsund
Prof. Dr. Bodo Zeuner, Berlin
Prof. Dr. Jochen Zimmer, Duisburg
Prof. Dr. André Frank Zimpel, Hamburg
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Martin Bartmann, MA, Kaiserslautern
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Dr. Reimund Anhut, Bielefeld
MA Marc Neumann, Bielefeld
MA Maria Klein-Schmeink, Münster
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Dipl.-Päd. Ursel Sickendiek, Dresden
Dipl.-Psych. Christoph Kimmerle, Potsdam
Dipl.-Soz.-Wiss. Goetz Koehler, Bochum
Dipl.-Soz. Andreas Puhlmann, Frankfurt
Dipl. Pol. Simon Möller, Berlin
Dr. Cornelia Heintze, Delmenhorst
Dr. Horst Hesse, Leipzig
Dr. Raimund Geene, Berlin
Dipl. Psych. Diana Rösler, Chemnitz
Dipl. Geograph. Michaela Gensheimer, Trier
MA Dipl. Pol. Andreas Hammer, Östringen
Dr. Helga Theunert, München
MA Dipl. Pol. Stefanie Janczyk, Marburg
Dr. Ulrich Koch, Leipzig
Dr. Elvira Strauß, Erkner
Dipl. Soz.-Päd. Peter Degenhard, Kamp-Lintfort
Dipl. Soz. Iris Bleyer-Rex, Bremen
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Dr. Carmen Gransee, Hamburg
Dr. Peter Herrmann, Cork
Dr. Hejo Manderscheid, Frankfurt
Dr. Heinz Lynen von Berg, Berlin
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Dr. Jürgen Neubert, Erfurt
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Dr. Fred Schell, München
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Dr. Wolfgang Lenk, Berlin
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Dr. Rudolf Scheutz, Salzburg
Dr. Sabine Hark, Potsdam
Dipl. Pol. Dörte Ohlhorst, Berlin
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