Irgendwas läuft falsch mit dem Kapitalismus, findet die Süddeutsche und hat unter der Überschrift “Macht uns der Kapitalismus kaputt?” ein neues Projekt aufgelegt.
Dabei braucht man für die Beantwortung dieser Frage eigentlich kein groß angelegtes Recherche-Projekt, denn diese Frage lässt sich ganz einfach mit “ja” beantworten. Doch genau diese Antwort will die Süddeutsche ausdrücklich nicht geben – denn was wäre dann die Alternative?
Was nicht sein darf, kann nicht sein: Der Kapitalismus ist alternativlos. Das stellt die Zeitung dann auch gleich im aktuellen Samstagsessay noch einmal ausdrücklich fest. Unter der Überschrift “Im Schatten des Booms” versucht der Autor Alexander Hagelüken, sich das Unbehagen am Kapitalismus von der Seele zu schreiben: Wenn laut einer aktuellen Umfrage 80 Prozent der Menschen in Deutschland erwarten, dass die Ungleichheit in den nächsten Jahren weiterer zu nehmen wird, während sie sich gleichzeitig weniger und nicht mehr Ungleichheit wünschen, dann läuft wohl irgendwas ziemlich schief.
Das tut es in der Tat. Doch statt einer vernünftigen Bestandsaufnahme der Dinge, die falsch laufen und deren ernsthafter Analyse kommt dann ein Meisterstück der Selbstverrenkung: Hagelüken stellt fest, dass die Einkommen breiter Schichten sinken, der Stress bei der Arbeit zu nimmt, weil die Leute in weniger Zeit mehr schaffen sollen, gleichzeitig aber die Finanzbranche die Allgemeinheit erpresst, für ihre Probleme zu haften und dass es – man spürt förmlich, wie es den Autor schmerzt, das aufschreiben zu müssen – dem Markt herzlich egal sei, ob in China eine Diktatur an der Macht ist oder die Unweit zerstört werde. Das ist alles ziemlich schlimm. Aber Hagelüken kommt gar nicht auf die Idee, dass es vielleicht am Kapitalismus selbst liegen könnte, wenn der so hässliche Dinge hervorbringt.
Aber es kommt noch schlimmer: Die Leute wünschten sich Veränderung, weil es für sie ja nun wirklich nicht gut läuft und wollten gleichzeitig aber prinzipiell am herrschenden System festhalten – sie wollten halt einen besseren Kapitalismus, genannt soziale Marktwirtschaft. Wenn die Leute das wollen, dann muss das wohl richtig sein. Der Autor kommt gar nicht auf die Idee, diesen Wunsch zu hinterfragen, sonst könnte er nämlich merken, dass das ziemlich bescheuertes Wunschdenken ist: “Wir wollen Kapitalismus, aber er soll sich nicht wie Kapitalismus anfühlen, sondern wie Sozialismus. Aber Sozialismus ist ja doof. Also wollen wir sozialen Kapitalismus!” Das ist ungefähr so, wie zu wünschen, dass bei Regen die Sonne scheint.
Aber offenbar wünscht Hagelüken das auch, denn der meint, dass wenn das nun der Wunsch der Massen sei, dieser auch erfüllt werden müsse. Also identifiziert er fünf Felder, auf denen es unbedingt Reformen geben müsste, auf das der Kapitalismus sozialer, also irgendwie besser, würde.
So müsse erstens für weniger Ungleichheit gesorgt werden. Das ist eine Neuauflage der Forderung “Arbeit muss sich wieder lohnen” – wobei das Problem ja ist, dass immer mehr Arbeit wegrationalisiert wird. Es ist schon irgendwie ungerecht, dass Computer und Roboter zunehmend auch qualifizierte Tätigkeiten übernehmen, diese Maschinen aber einer kleinen Minderheit gehören, die immer reicher wird, während der Rest in die Röhre schaut. Das findet sogar Hagelüken. Hier könnte man dann also mal einhaken und auf die Idee kommen, dass man dann derartige Produktionsmittel eben in Volkseigentum überführen müsse, damit alle etwas davon haben.
Darauf kommt ein SZ-Autor natürlich nicht, dem fällt zum Stichwort “weniger Ungleichheit” nur “mehr Chancengleichheit” ein. Nun hat “Chancengleichheit” recht wenig mit gleichen Lebensbedingungen für alle zu tun, Chancengleichheit bedeutet nur, dass die Chancen, eventuell mal zu denen da oben gehören zu dürfen, gerechter verteilt werden sollen, wobei “gerechter” für den Autor einfach nur heißt, dass mehr in Bildung investiert und darauf geachtet werden müsse, dass die Kinder nach der vierten Klasse nicht schon in ihre zukünftige Laufbahn vorsortiert werden, wie es derzeit der Fall ist.
Aber selbst wenn man hier tatsächlich die totale Chancengleichheit herstellen könnte, in dem man wirklich alle Kinder zu einem Einser-Abitur päppelt, mit dem man theoretisch durchaus eine Chance auf eine einkömmliche Karriere hätte, würden natürlich trotzdem nicht alle einen einträglichen Superjob bekommen. Sondern es gäbe halt noch mehr super qualifizierte Arbeitskräfte, die für Mindestlohn einen Scheißjob machen müssen.
Daraus folgt – anders als die SZ es glauben will: Es gibt in unserem segensreichen System genau die Bildung, die dafür nötig ist. Genau deshalb werden die Leute ja nach der Grundschule entsprechend sortiert. Würde mehr Bildung gewollt, würde das Bildungssystem entsprechend ausgebaut und nicht, wie es tatsächlich geschieht, immer weiter zusammen gespart. Man lernt es ja von Großbritannien und den USA: Bei Bedarf kann man einfach Leute aus anderen Ländern anwerben, auf deren Qualifikation die Wirtschaft gerade scharf ist. Das erhöht dann halt die Chancen derer, die sich eine entsprechende Ausbildung leisten wollten und konnten.
Die so genannte Chancengleichheit braucht man übrigens genau dann, wenn man davon ausgeht, dass es quasi naturgegeben Ungleichheit gibt: Eine Chance ist keine Garantie, sondern ein Strohhalm, nach dem diejenigen greifen können und müssen, die bei der ungleichen Verteilung der Ressourcen nicht so gut weggekommen sind. Mit dem Versprechen der Chancengleichheit wird Ungleichheit also eher zementiert als abgebaut. Ungleichheit abbauen kann man nur durch Umverteilung, dazu müssen diejenigen, die viel haben, gezwungen werden, denen, die wenig haben, mehr abzugeben.
Doch wenn man sich dazu nicht durchringen kann, hilft auch der Blick über den Tellerrand nicht, der in Punkt zwei erfolgt: Ungleichheit müsse nicht nur im eigenen Land, sondern global abgebaut werden. Da könnten die westlichen Länder viel tun, wenn sie wollten.
Tja, lieber Herr Hagelüken – genau das wollen sie aber nicht. Im Gegenteil: Gerade die reichen Länder sorgen derzeit doch dafür, dass die armen Länder nicht aus den Puschen kommen. Genau das hält das System am Laufen – was wäre denn, wenn jedes Hungerleiderland soweit hochgepäppelt wird, dass es auf dem Weltmarkt zum Konkurrenten wird? Die Armut der einen ist die Voraussetzung für den Reichtum der anderen. Genau deshalb lassen vernunft- und empathiebegabte Menschen zu, dass eine Elite ihre Genussfähigkeit verfeinert, während Millionen Menschen verhungern. Dagegen hilft keine moralische Empörung, sondern nur ein Systemwechsel. Aber genau darüber will Hagelüken ja nicht nachdenken.
Ähnlich schwachsinnig ist auch der nächste Punkt: Der Kapitalismus müsse endlich nachhaltiger werden. Seit Jahrzehnten sei bekannt, dass Übernutzung und Zerstörung von Ressourcen die Menschheit ihrer Lebensgrundlage berauben – aber es sei noch immer nicht gelungen, im Kapitalismus Mechanismen zu finden, die der Umwelt einen adäquaten Preis zuordnen, so dass diese Zerstörung gestoppt werden könne. Natürlich wäre das im Kommunismus alles noch schlimmer, weil da hat ja gar nichts einen adäquaten Preis. Also ist Kapitalismus zwangsläufig besser, aber leider noch nicht so richtig gut. Und dann wird es noch viel origineller: Weil die ganzen Klimakonferenzen bisher leider gar nichts gebracht hätten, soll sich die Staatengemeinschaft jetzt doch bitte schön endlich aufraffen und das auf der nächsten Klimakonferenz endlich mal regeln. Merkt der Autor tatsächlich nicht, wie bescheuert diese Forderung angesichts seiner eigenen Bestandsaufnahme ist?
Der nächste Punkt wird auch nicht besser, da will Hagelüken nämlich das Problem des “Überschuldungskapitalismus” angehen. Dazu wirft er Staats-, Unternehmens- und Privatschulden in einen Topf, was an sich schon ziemlicher Unfug ist: Denn für einen Privatmensch, der Schulden hat, weil er sich das Auto, das er braucht, um zur Arbeit zu kommen, eigentlich gar nicht leisten kann, sind diese Schulden ein ganz anderes Problem als für einen Unternehmer, der sich Geld leiht, um eine Maschine zu kaufen, die wieder eine Reihe Arbeiter überflüssig macht, die dann ihre Schulden erst recht nicht bezahlen können. Für den Unternehmer ist seine Schulden eine Investition in künftigen Gewinn, für den Privatmensch hingegen die Schlinge um seinen Hals, die sich immer weiter zu zieht. Also ist für einen schlecht, was für den anderen gut ist: Schulden nämlich sind nur für den ein Problem, der sie am Ende begleichen muss und kein Geld dafür hat.
Und Staatsschulden sind noch mal eine ganz andere Geschichte – wie soll denn ein vernünftiger Kapitalismus funktionieren, wenn ein Staat kein Geld in die Hand nimmt, um den Laden am Laufen zu halten? Gut, wenn ein vergleichsweise bedeutungsloser Staat wie Griechenland nicht mehr genug Geld hat, um seine Verbindlichkeiten an anderen Staaten zu bezahlen, dann ist das natürlich blöd, vor allem für die Griechen. Aber bei der Bundesrepublik Deutschland oder gar den USA sieht das ganz anders aus: Da zeigt sich doch gerade an der Fähigkeit, noch mehr Schulden machen zu können, erst die Potenz dieser Gebilde! Und wer erwartet denn im Ernst, dass eine USA irgendwann einmal ihre Schulden zurückzahlen würde? Da lachen ja die Hühner! Wozu denn?
Noch lustiger ist allerdings der letzte Punkt “Mehr Kontrolle”. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, das wusste auch Lenin. Der wird hier natürlich nicht zitiert, sondern einmal mehr auf die soziale Marktwirtschaft verwiesen, die Ludwig Erhard angeblich erfunden hat. Dabei hatte der marktliberale Erhard nun keineswegs einen fürsorglichen Sozialstaat im Sinn, sondern einen, in dem jeder Bürger vor allem für sich selbst verantwortlich sein sollte – mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Hagelüken meint, dass die soziale Marktwirtschaft so toll funktioniert habe, weil die Marktmacht einzelner Unternehmen oder Interessengruppen wirksam kontrolliert worden sei. Wenn man also die Finanzbranche effektiver kontrollieren würde, so dass die uns nicht mehr von heute auf morgen mit Finanzkrisen überraschen kann, wäre alles besser. Und auch neue Monopolisten wie Google oder Facebook müssten stärker kontrolliert werden. Nun ja – aber wie will der Autor eine staatliche oder gar überstaatliche Kontrolle von Privatunternehmen mit den Grundsätzen des freien Unternehmertums in Einklang bringen? Das wäre mal interessant, verrät er aber nicht.
Alles in allem ist dieser Essay also ein gelungener Auftakt zur neuen Süddeutsche-Recherche-Serie über den Kapitalismus, der erwarten lässt, dass in den weiteren Artikeln ebenso wenig über die wirklichen Schwächen und Gefahren des kapitalistischen Systems zu erfahren sein wird, wie in diesem. Der zudem ein Spitzenprodukt des unlogischen Zirkeldenkens ist: Ein Problem zu benennen, um dann zur Behebung eben dieses Problems das eben als unwirksam erkannte Instrument vorzuschlagen und das gleich fünf mal hintereinander ist schon eine erstaunliche Leistung.
Da behaupte noch einer, dass Gehirnwäsche nicht funktioniert!