Nach aussen hin ist Sophie, seit kurzem geschieden, eine glückliche Frau, die sich problemlos in ihr neues Leben hineingefunden hat. Aber in ihrem Inneren sieht es anders aus ...
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"Sophie, Liebes, Paul und ich geben zu unserem 25. Geschäftsjubiläum eine Riesenparty, zu der du herzlich eingeladen bist. Dein Ex-Ehemann Arno wird auch da sein, natürlich mit seiner neuen Frau Beatrice. Das ist doch kein Problem für dich? Es ging leider nicht anders - bei den engen geschäftlichen Beziehungen, die Paul und Arno miteinander haben."
Sophie hielt den Hörer etwas vom Ohr ab, denn Nicole hatte eine durchdringende Stimme. Resolut fuhr ihre Freundin auch schon fort: "Zeig es einfach diesem Kerl, wie gut du ohne ihn zurechtkommst." Und flüsternd fügte sie hinzu: "Du, ich hab eine Überraschung für dich. Einen tollen Mann, den ich dir vorstellen möchte ..."
Hier gelang es Sophie endlich, sie zu unterbrechen: "Versuch nicht wieder, mich zu verkuppeln. Mit Männern hab ich nichts mehr im Sinn!"
"Ach was", lachte Nicole. "Mit 44 Jahren ist man noch nicht jenseits von Gut und Böse. Sieh ihn dir wenigstens an. Ausserdem möchte ich doch nur, dass du dich gut unterhältst, und er ist ein erstklassiger Unterhalter. Weisst du übrigens, dass du dich sehr zu deinem Vorteil verändert hast? Ich kann's dir ja ruhig sagen, nicht wahr? Früher fand ich dich ein bisschen zu hausmütterchenhaft, zu ... bieder. Du hattest auch mindestens 10 Pfund zuviel auf den Rippen. Aber das ist ja jetzt alles runter. Du siehst grossartig aus, Liebes!"
Ja, sie hatte abgenommen, aber nicht mit Absicht. Es war der Kummer gewesen. Sophie fühlte sich unbehaglich. Ihr war bewusst, dass sie ihren Freunden und Bekannten eine Kommödie vorspielte. Die Kommödie der "glücklich geschiedenen Frau", die sich problemlos in ihr neues Leben hineinfindet. Mitleid hätte sie nicht ertragen.
Bezeichnenderweise war ihr auch alles gelungen. Zumindest nach aussen hin. Sie hatte sich in Rekordzeit eine Existenz aufgebaut, indem sie Leuten, die den Sprung in die Selbstständigkeit wagen wollten, bei der Unternehmensgründung half.
Aber in ihrem Inneren sah es ganz anders aus. Da herrschten immer noch Schmerz, Ratlosigkeit und Wut. Arno und sie waren 22 Jahre verheiratet gewesen. Sophie hatte beim Aufbau seiner Firma mitgeholfen, war in den ersten schwierigen Jahren und auch später stets an seiner Seite gewesen. Zusammen hatten sie zwei Söhne aufgezogen, auf die sie stolz sein konnten.
Doch plötzlich zählte das alles nicht mehr. Weil er Beatrice begegnet war. Beatrice war jung und schön, sie bewegte sich absolut sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett und in den Kreisen, die für Arnos neue politischen Ambitionen wichtig waren. Beatrice war die Frau, die er jetzt an seiner Seite brauchte, hatte er Sophie unverblümt erklärt. Er hatte einen befreundeten Anwalt mit der Scheidung beauftragt und war in materieller Hinsicht daraus als Gewinner hervorgegangen.
"Sophie, bist du noch am Apparat?"
"Natürlich."
"Du kommst also zu unserer Party", bestimmte Nicole. "Unbedingt!"
"Gut", gab sich Sophie geschlagen.
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Sie hatte sich für die Party besonders sorgfältig zurechtgemacht, und als sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, stellte sie fest, dass Nicole recht hatte: Ja, sie konnte sich durchaus sehen lassen. Ihr Haar war voll und seidig, die Augen glänzten, und ihre Figur war mädchenhaft schlank.
In der kiesbedeckten Einfahrt parkten schon viele Autos. Je näher Sophie der Eingangstür kam, desto grösser wurde der Druck in ihrer Brust. Auf einmal wusste sie, dass sie sich der Begegnung mit Arno und Beatrice nicht gewachsen fühlte. Zu viele Wunden würden wieder aufbrechen. Und warum sollte sie sich das eigentlich antun?
Abrupt drehte sie sich um - und prallte gegen einen Mann, der rasch zugriff um sie vorm Hinfallen zu bewahren.
"Verzeihung, ich wollte Sie nicht umrennen", entschuldigte sie sich.
"Das hätte ich auch nie vermutet. Haben Sie etwas vergessen?" erkundigte er sich, ehe er sie vorsichtig wieder losliess.
Sie nickte: "Ja, mich selbst."
"Das ist schlimm", meinte er ernsthaft und musterte Sophie aufmerksam. "Sie weinen ja", stellte er besorgt fest.
Es war, als sei ein Damm gebrochen, als drängten alle Tränen heraus, die Sophie viel zu lange zurückgehalten hatte. Der Fremde drückte ihr ein sauberes Taschentuch in die Hand und führte sie etwas abseits zu einer Baumgruppe, die sie vor neugierigen Blicken schützte. Spontan legte er den Arm um sie und hielt sie fest, bis ihr Schluchzen verebbte und sie sich beruhigte.
"Wollen wir nicht lieber auf dieses Fest verzichten?" schlug er vor. "Ich bin sowieso nur hier, weil Nicole mir die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Allein fühle ich mich wohler."
Nein, fügte er in Gedanken hinzu, das stimmt nicht ganz. Aber lieber allein als in oberflächlicher Gesellschaft. Wie kam es, dass diese weinende Frau ihn derart berührte? Weil er spürte, dass ihr Schmerz echt war und sie Hilfe brauchte?
"Ich kenne ein nettes kleines Bistro in der Stadt, wo man ausgezeichnet essen kann", sagte er. "Ich lade Sie ein."
Seine tiefe, ruhige Stimme und seine Fürsorge taten ihr gut. Sophie hatte nicht das Gefühl, sich vor ihm verstecken zu müssen. Deshalb nahm sie seine Einladung an.
Er führte sie zu seinem Wagen, der direkt neben dem ihren geparkt war und öffnete die Beifahrertür.
"Nein, ich nehme meinen eigenen Wagen und fahre hinter Ihnen her", entschied sie und fügte hinzu: "Bitte, das ist mir lieber."
"Können Sie denn fahren? Ich meine, mit diesem Kummer?"
Sie wischte sich entschlossen die Tränen ab und putzte sich die Nase: "Ich hab schon ganz andere Sachen geschafft!"
"Also gut, einverstanden. Aber ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ich möchte Sie nämlich nicht verlieren."
Während der Fahrt wurden sie tatsächlich nicht getrennt. Mit diesem Mann, fand Sophie, war alles so einfach.
Im Bistro wurde er wie ein guter Freund empfangen - und sie mit ihm. Sie bekamen einen gemütlichen Tisch in einer Niesche. "Mein Stammtisch", erklärte er ihr, "und ich finde es wunderbar, ihn mit Ihnen teilen zu dürfen."
Als der Wein vor ihnen stand, hob er sein Glas: "Mein Name ist Ludwig", sagte er. "Ludwig Korte."
"Ich bin Sophie. Sophie Wilckens." Der Wein tat ihr gut. Oder war es die Gegenwart dieses sympathischen Mannes?
Ludwig Korte schlug ihr vor, das Spezialmenü des Hauses zu bestellen, und Sophie stimmte sofort zu. Sie merkte, dass sie hungrig war, und langte mit grossem Appetit zu, nachdem die Vorspeise serviert worden war.
"Darf ich den Grund für Ihre Traurigkeit wissen? Oder ist das zu indiskret?" fragte er. "Wissen Sie, ich habe auch schon viel geweint. Das war, als ich meine Frau vor vier Jahren verlor."
"Das tut mir leid", sagte sie betroffen. "Verglichen mit dem Tod ist eine Scheidung natürlich lächerlich."
"Ich bin mir da nicht sicher", erwiderte er nachdenklich. "Wenn jemand stirbt, kann man um ihn trauern. Aber wie soll man um jemanden trauern, der lebt - und einen womöglich verraten hat?"
"Man kann um die Ehe trauern", überlegte Sophie laut. "Aber es ist schwerer, damit fertig zu werden, dass man sich in dem Partner geirrt hat. Kann ein Mensch sich derart ändern? Oder habe ich Arno nicht gut genug gekannt?" Sie seufzte. "Aber wie ist es möglich, einen Menschen wirklich zu kennen? Man kennt sich ja nicht einmal selbst. All diese Gedanken gehen mir Tag und Nacht im Kopf herum."
Ludwig war Schriftsteller. "Mit einem Hang, mich zu verkriechen", erläuterte er. "Aber es ist nicht gut, sich dem Leben zu entziehen. Als Alma noch lebte, war sie es, die das nicht zuliess. Sie war fröhlich und gesellig und ging leidenschaftlich gern aus. Sie fehlt mir unbeschreiblich."
"Warum werden wir nicht einfach Freude und helfen uns gegenseitig?" schlug Sophie vor. Zu keinem anderen Menschen hatte sie so ehrlich sein können wie heute zu Ludwig. Dieser Abend, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, hatte eine unerwartete Wende genommen.
"Ich nehme Ihren Vorschlag gern an", erwiderte er lächelnd ...
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Der nächste Tag war ein Sonntag. Um elf Uhr rief Ludwig an, um zu fragen, wie sie geschlafen hatte.
"So gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Und Sie?"
"Ich ebenfalls."
Sie plauderten noch etwas und verabredeten sich für den Abend zu einem Theaterbesuch. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Es war Nicole: "Warum bist du nicht gekommen?" schimpfte sie. "Du hast hoffentlich eine gute Erklärung?"
"Tut mir leid, aber mir kam etwas dazwischen", flunkerte Sophie.
"Hoffentlich nichts Schlimmes."
"Nein, nein, mach dir keine Sorgen.
Nicole wartete, aber als von ihrer Freundin keine weitere Erklärung kam, bemerkte sie säuerlich: "Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können! Mit dem Mann, den ich dir zugedacht hatte, hab ich übrigens auch ein Hühnchen zu rupfen. Er ist ebenfalls nicht erschienen. Aber mein Cousin Ludwig war schon immer sehr eigen. Früher hat Alma ihn aus seiner Höhle gelockt, da war alles einfacher. Sie ist vor vier Jahren gestorben. Ist das nicht traurig?"
Sophie hätte sich beinahe verschluckt. Fast hätte sie ihrer Freundin die Wahrheit gestanden, aber eine innere Stimme sagte ihr, ihre beginnende Freundschaft zu Ludwig vor Nicoles Neugier und ihren direkten Fragen zu schützen. Sie wusste ja selbst nicht, was daraus werden würde. So entgegnete sie nur: "Ja, es ist sehr traurig, einen geliebten Menschen zu verlieren." Und fügte rasch hinzu: "Ich hoffe, die Party war trotzdem schön?"
"Sie war ein voller Erfolg. Hör mal, dein Ex-Mann und seine ..."
Nein! Sophie hatte partout keine Lust, etwas über die beiden zu hören, deshalb fiel sie ihrer Freundin rasch mit einer neuen Notlüge ins Wort: "Es hat gerade geklopft, das ist sicher meine Nachbarin, die vorbeischauen wollte. Also, bis bald, Nicole. Danke für deine Einladung und verzeih bitte, dass ich nicht gekommen bin." Damit legte sie einfach auf.
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Vier Monate später machte Ludwig ihr einen Heiratsantrag. "Ich liebe dich, Sophie. Nie hätte ich geglaubt, dass ich noch einmal eine Frau von ganzem Herzen lieben könnte. Es ist wie ein Wunder."
Ludwig hatte inzwischen auch ihre erwachsenen Söhne kennengelernt. Sie waren sich sympathisch, Sophie wusste, dass ihre Kinder ihr dieses neue Glück wünschten. Und sie selbst mochte Ludwig. Mochte ihn mehr als irgendeinen anderen Menschen.
Ein Leben ohne ihn konnte sie sich nicht mehr vorstellen - aber war es Liebe? Sie hatte bisher nur einen Mann geliebt: Arno. Und irgendwo in ihrem Inneren hoffte sie noch immer, dass er zu ihr zurückkommen würde. Sie versuchte, das alles Ludwig zu erklären.
"Ich verstehe das, und ich werde geduldig sein. Du sollst nur wissen, dass ich dich liebe ..."
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Sie waren zu einem Opernabend verabredet. Sophie hatte einen Parkplatz gefunden und ging das letzte Stück zu Fuss. Wie versteinert blieb sie stehen, als aus einem Taxi vor ihr plötzlich ein Paar stieg: Arno und Beatrice.
Während Beatrice zielstrebig weiterging, drehte sich Arno langsam zu seiner Ex-Frau um. Einen Augenblick sahen sie sich an. Dann räusperte er sich: "Hallo, Sophie. Gut siehst du aus."
"Hallo, Arno, du auch." Seine Bräune sah nach Sonnenstudio aus, und er trug einen teuren Kaschmirmantel.
Jetzt kam Beatrice zurück und hakte Arno besitzergreifend unter. "Was machst du denn hier? Komm, wir dürfen den Bürgermeister und seine Frau nicht warten lassen!" Mit einem schnippischen Blick auf Sophie zog sie ihn fort - und Arno folgte ihr gehorsam. Wie ein kleiner Hund, dachte Sophie.
Sie sah ihnen nach und atmete tief ein. Nein, dieser Mann, das war nicht mehr "ihr" Arno. Er war ihr fremd geworden, er bewegte nichts mehr in ihr. Selbst wenn er zu ihr zurückkäme - sie würde ihn nicht mehr wollen ...
"Da bist du ja", sagte Ludwig. "Ich habe mir schon Sorgen gemacht."
"Ja, da bin ich. Für immer, Ludwig. Ich meine, wenn du mich noch haben willst. Als deine Frau." Sie würde ihm später erzählen, was vorgefallen war und warum sie sich plötzlich wie befreit fühlte. Jetzt wollte sie nur die Liebe in Ludwigs Augen sehen, seine Wärme spüren und seine Lippen auf den ihren ...
Als sie sich endlich voneinander lösten, flüsterte er ihr verschmitzt zu: "Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht meiner lieben Cousine Nicole, wenn wir sie zu unserer Hochzeit einladen!"
ENDE