Sonntag

Von Guidorohm

Die Straßen sind nicht leer gefegt. Man kann allerhand finden. Dort drüben tanzt ein Papier die Bordsteinkante entlang, darauf mit einer zittrigen Handschrift verwehte Buchstaben hinterlassen wurden, die kaum zu entziffern sind. Butter könnte eines der Worte lauten. Vielleicht ist aber auch Futter oder Kutter gemeint. Man müsste sich einen neunjährigen Dechiffrier-Spezialisten herbei holen; leider schlafen die meisten dieser kundigen Allroundtalente um diese Uhrzeit noch. Sie sind als Traum-Agenten unterwegs. Laufen durch eine animierte Welt, die von Wochentagen nichts weiß, dafür aber von Drachen und dem Heißhunger eines gewissen Riesen. Also lässt man das Papier sein. Es steppt unbekümmert auf einen Abhang zu. Was wissen so Papiere schon von einem gebrochenen Rückgrat?
Menschen sind in der Frühe des Sonntags nicht zu erblicken. Sie krümmen sich noch in ihren gefederten Traummobilen, die der Arbeit entfliehen. Manche sind Bären. Sie schnarchen nahe ihrer Honigtöpfe.
Ein Wind durcheilt die Straße. Er klagt. Wir können ihn nicht ansprechen, denn er lässt sich nicht halten. Er weht eilig. Ein langgezogener Windzug, der Wagen für Wagen durch die Straße poltert. In seinen Waggons befindet sich allerlei: Sandkörner, Salz, auch der eine oder andere Regenschirm, den eine schwache Hand nicht von seiner Reise abhalten konnte.
Die Autos schlummern noch. Sie träumen von endlosen Straßen, die weder Stau noch Unebenheiten kennen.
Die Straße atmet Einsamkeit.
Doch da öffnet sich plötzlich eine der Haustüren. Eine ältere Frau tritt heraus. Der Wind seufzt bei dem Anblick ihrer wirr sprudelnden Haarfontäne.
Sie spaziert bis an die Bordsteinkante. Für einen Augenblick hält die Welt den Atem an. Der Wind klammert sich an eine Hausecke und starrt gebannt auf dieses Schauspiel.
Die Frau blickt an sich herunter.
Das Papier mit dem eventuellen Wort Butter auf dem zerschundenen Leib denkt: Eine Selbstmörderin!
Das Papier will aufschreien. Der Wind will es ihm gleichtun. Es gilt das Leben eines Menschen zu retten. Aber was soll man tun? Wie reagieren?
Die Frau sieht die Straße hinauf und hinab. Da scheint sie sich wieder der unmittelbaren Werte des Lebens zu erinnern. Sie nimmt Abstand von der Bordsteinkante und tippelt ins Haus zurück.
Papier und Wind atmen erleichtert auf. Die Autos haben die dramatische Situation verschlafen.
Schon nach wenigen Minuten ist die Frau vergessen. Es ist Sonntag. Die Zeiger der Uhr haben ihren Spurt Richtung der Neun begonnen; jene magische Grenzzahl, die den Übertritt vom Schlaf ins Erwachen anzeigt.
Die Welt regt sich.