Sommerinterview mit Anna Breitenbach

Bevor sich die warmen Tage endgültig verabschieden, kommt hier unser Sommerinterview mit Anna Breitenbach:
Sie ist überraschend, manchmal ein bisschen frech und sie transformiert scheinbar Banales zu außergewöhnlich leichtfüßigen Gedichten und Geschichten, nicht ohne Tiefgang: wir trafen die Esslinger Künstlerin Anna Breitenbach zum Interview auf einem Bänkchen mitten im Grünen, nicht zuletzt, weil Natur in ihren Texten eine große Rolle spielt.
Auch in unserem G:sichtet-Band „humaNature“ tobt beispielsweise pralles Liebesleben auf umgestürzten Bäumen, werden Grünstreifen zu Lieblingswegen und hitziges Mohn-Rot verwandelt Felder in wogende Flammenseen.
Wir haben uns mit Anna Breitenbach über die subversive Kraft der Natur und Poesie, und über ihre ganz eigene Art zu texten, unterhalten.
Anna, wir sitzen hier für unser Sommerinterview mitten in der Natur, die in Deinen Arbeiten ja auch eine große Rolle spielt. Seit wann gibt es bei Dir diese Affinität zur Natur und woher kommt sie?
AB: Ich bin die ersten sechs Jahre in einem Dorf aufgewachsen, in einem ganz winzigen Dorf. Meine Eltern waren Flüchtlinge, haben aber dann da einen Laden aufgemacht und waren beschäftigt. Deshalb hatte ich damals eigentlich ein Stromerleben: ich war den ganzen Tag unterwegs, es hat keiner nach mir gefragt - heutzutage würde sowas hier nicht mehr gehen, dass ein Kind so alleine rumstrolcht.
Wenn die Bauern aufs Feld gefahren sind, bin ich mitgefahren, hab Kartoffeln nachgelesen, bin auf dem Heuwagen wieder mit zurück gekommen. Es gab damals noch keine Handys, kein Mensch hat gefragt: wo ist das Kind, melde dich doch mal.
Mittags hab ich in der Wohnküche mitgegessen. Die Bauernpfanne, würde man heute sagen, stand mitten auf dem Tisch und jeder bekam einen Löffel. Ich zudem noch ein Kissen unter den Hintern und so bin ich da gesessen. Am Nachmittag bin ich dann wieder dahin, wo was los war und bin dann irgendwann abends zuhause eingelaufen.
Die ersten sechs Jahre hab ich also viel Natur abbekommen. Danach bin ich in einer hessischen Kleinstadt gelandet, aber auch da war ich viel draußen, immer um die Häuser, hab mit den anderen Kindern Brennball und Räuber und Gendarm gespielt.
Fließen Deine Kindheitserinnerungen in Deine Texte ein oder was inspiriert Dich beim Schreiben?
AB: Über diese Kinderzeit habe ich eine Geschichte geschrieben, die hieß zuerst „Das Dorf“. Die schrieb ich für einen württembergischen Wettbewerb und dann hab ich sie umbenannt, sie heißt jetzt „Die kleinen Jahre“. Das sind lauter (kleine) Erinnerungsbilder aus dem Dorf, die hab ich also schon bearbeitet.
Abgesehen von der Natur interessiere ich mich natürlich für alles Kleine und Große, für das was wächst und seltsam ist. Und dieser Platz hier, wo wir zwei sitzen, ist natürlich ein sehr interessanter Platz: da hinten ist nämlich das Mutzenreiswäldchen. Weiter unten ist das Industriegebiet und die B10 Richtung Stuttgart, oben geht es auf die Fildern und da ist das Wäldchen dazwischen für mich wie eine Insel.
In diesem Wäldchen laufe ich rum seit ich in Esslingen wohne, also über 30 Jahre, bin mit dem Kinderwagen da spazieren gegangen, mit meinen Hunden und: in diesem Wäldchen sind immer wieder Gedichte entstanden. Und Fotos. Im Moment mache ich einen Foto-Gedichtband mit einem Fotografen und der sollte erst auch einfach „Das Wäldchen“ heißen. Darin gibt es so absurde Bäume und so seltsame Pflanzen, die man in so einem albernen kleinen Wäldchen nicht erwarten würde.
Aber irgendwie fallen da die Sachen und bleiben, niemand kümmert sich drum, mal wird was gefällt, mal bricht was zusammen. Und dann gibt es natürlich zivilisatorische Artefakte, irgendwelche einzelne Turnschuhe, Olivenölbüchsen, ich hab schon eiserne Griffe gefunden, von Schatzkisten! und durch diese Fundstücke – oder durch ein Foto – sind immer Gedichte entstanden.
Hier weiter unten hab ich einen Lautsprecher gefunden mit einer Stoffbespannung, die war schon so halb weg gefault und da sind Grasbüschel raus gewachsen – wunderbar. Den hab ich mitgenommen. Dann hatte ich eine Ausstellung bei der LesArt in Esslingen im Kutschersaal und im Vorhof der Bibliothek. Da hab ich ihn mit den Grasbüscheln, auf der Wiese mit Erde ausgegraben, so hingelegt, wie ich ihn gefunden hatte. Er hieß dann: der Feldsprecher.
So gibt’s zu allen möglichen Sachen hier in diesem Gebiet Texte oder Fotos und die kommen in diesen Band rein. Eines dieser Gedichte ist zum Beispiel „Feldfarben“: 
Feldfarben
mir laufen drei Frauen
über den Weg, sportlich
überholen sie mich um
Längen, ich laufe nämlich
gerade nicht
neben Wiesen junge Felder
wellen sich gelassen in dem
fetten Grün, das glänzt wie
neu und kommt von dem
vielen Regen
dazwischen die drei
furchtbar falschen Farben
die die Frauen durch die
Gegend tragen und sich
dabei s e h r bewegen
Die drei Frauen habe ich tatsächlich getroffen und sie haben sich von mir auch gerne fotografieren lassen. Auch für meine Geschichten muss ich eigentlich so gut wie nichts erfinden. Ich habe das Glück, dass ich immer in spannende Situationen gerate.
Schon allein in meiner Straße finde ich Leute und Geschichten, die unglaublich sind. Als ich mal in ein Ferienhaus in Frankreich kam, lag da zum Beispiel nachmittags eine Leiche am Pool, wie eine Mumie, in ein Leinentuch gewickelt. Und lag da, allein und verlassen, bis zum Abend. Daraus musste natürlich eine Geschichte werden.
Was genau bedeutet Dir Natur?
AB: Die Natur hat für mich schon eine Stärke, eine Macht, auch so einen Widerstand gegen alle Zerstörung. Und ist „natürlich“ – wenn man nur hinschaut – ein laufender Film für das Triebhafte. Für das, was sich durchsetzt. Ob das jetzt ein Champignon ist, der sich durch den Asphalt bohrt – darüber hab ich auch ein Gedicht gemacht – oder ob man in der Stadt betonierte Ecken sieht, von denen man denkt, da ist alles fertig und dann schaut man genauer hin und sieht, wo diese kleinen Partisanen aus allen Ecken raus wachsen.
Bei allem was mein Kopf so weiß in Sachen Umweltzerstörung: meine eigenen Augenerfahrungen habe ich auch und ich sehe dauernd, was das für ein starkes Tier ist, die Natur. Das finde ich sehr tröstlich, da fühle ich mich auch verbunden damit.
Man sieht kleine Bäume, mittlere, große, flache Pflanzen, hohe, es geht alles hin und her, wächst, geht kaputt und wächst wieder neu - das beruhigt mich, wenn ich das so sehe. Hat ja auch mit einem selbst zu tun, man ist klein, man wächst, wird größer. Als ob das alles Teil eines Systems ist und ich ein Teil dieses Systems bin und das alles schon so in Ordnung geht.

Apropos, es geht hin und her: es gibt ein Filmprojekt von Dir mit dem Titel „Guerrilla Gardening“ - was bedeutet das wilde Gärtnern für Dich?

AB: Also ich renne nicht rum und pflanze, das ist nicht mein Ding. Aber das Subversive der Natur, das sich Durchsetzen und Wege suchen, das ist für mich gleichbedeutend mit dem Subversiven des Poetischen.
Egal, wie groß der Betrieb in der Stadt ist, wie knallhart der Kapitalismus und das Marktbewusstsein: das Poetische ist eine vitale Kraft, auch eine Art Droge. Deswegen sage ich immer: Gedichte sind brauchbar. Sie sind nicht nur was für Fachleute, für Lyriker und ihre Anhänger, sondern ich hätte gern, dass Poesie eine für jeden nutzbare Droge ist.
Wann und wie sind eigentlich Deine ersten Texte entstanden?
AB: Als Kind hatte ich ein rotes Blöckchen, das ich übrigens immer noch habe, und da schrieb ich Gedichte rein. Ich war ein großer Wilhelm-Busch-Fan. Meine Eltern hatten von Bertelsmann die sechs Bände und ich konnte Stunden damit sitzen und fand das immer wieder spannend. Und ich hab selbst in so einer Wilhelm-Busch-Manier gedichtet.
Dann hab ich eine Zeit mit dem Schreiben aufgehört, also weder Geschichten noch Gedichte geschrieben. Ich hab studiert, war dann in München auf der Journalistenschule und anschließend gab es zwei Hospitanzen. So bin ich erst zur Stuttgarter Zeitung und dann zum Süddeutschen Rundfunk gekommen. Und da hatte Helmut Heißenbüttel eine damals berühmte Sendung, den „Radioessay“. Außerdem war er ein konkreter Dichter, der zur Stuttgarter Schule gehörte, ein beeindruckender Typ.
Ich kam da hin, mit 25 Jahren etwa und da ich ja Hospitantin war, sollte ich morgens rechtzeitig in der Redaktion sein. Die ganzen Kulturleute kamen immer erst um elf, weil die ja auch zuhause arbeiten und lesen, hieß es. Nur Heißenbüttel und ich kamen um neun und das war ganz wunderbar. Von neun bis elf haben wir uns Geschichten erzählt.
Wenn die anderen kamen, sind wir natürlich an unsere Arbeit gegangen. Ja und in der Zeit begann ich wieder Gedichte zu schreiben. Als ich ein paar zusammen hatte, dachte ich, die zeige ich ihm. Weil wir uns ja mochten, befürchtete ich, dass er sie vielleicht nur deshalb loben würde. Also hab ich sie seiner Sekretärin gegeben und sie sollte sagen, dass eine Freundin von ihr dichtet.
Er kam dann mit den Gedichten aus seinem Arbeitszimmer raus, hat mich angegrinst und gemeint, als ob er nicht sofort merken würde, dass das meine Gedichte sind!
Später hat mir sein Sohn, (der für die Stuttgarter Zeitung schreibt,) mal erzählt, sein Vater hat ihm als Kind die Sprache so erklärt, dass jedes Wort wie ein Baustein ist. Die kann man aufeinander stapeln oder nebeneinander legen und eins zum anderen … Ich glaub von der Art, wie er so gebaut, also die Sätze gebildet hat, das hat sich mit meiner Art zu schreiben irgendwie gut verbunden. Ich sehe ihn eigentlich als meinen ersten Schreiblehrer.
Ich hab übrigens ein Portrait über ihn geschrieben, in 14 Bildern, und eine Kurzgeschichte. Vor drei Tagen bekam ich eine Einladung von der Stadtbibliothek Stuttgart: es gibt 2015 einen großen evangelischen Kirchentag mit zahlreichen Veranstaltungen in der ganzen Stadt und die Stadtbibliothek beteiligt sich mit einem beweglichen Salon.
Das sieht so aus, dass an einigen Stationen Stuttgarter Literaten stehen - zum Beispiel beim Lieblingslokal von Thaddäus Troll oder auf dem Schillerplatz - und von diesen Dichtern Texte lesen und etwas über ihre eigene Beziehung zu ihnen erzählen. In der Liste standen also alle möglichen Dichter und was lese ich auf einmal: Helmut Heißenbüttel. Ich hab gleich angemeldet, dass ich Heißenbüttel bei der Veranstaltung gerne vertreten würde, das ist dann am Schlossplatz.
Anna, Du schaffst es, scheinbar ganz banale Dinge in einer Art poetischer Alchemie zu etwas ganz Besonderem zu machen. Und es ist immer ein kleines Augenzwinkern dabei. Gehört das zu Deiner Persönlichkeit oder verwendest Du zum Schreiben einfach dichterisches Handwerkszeug?
AB: Ich hab grade beim Literarischen Forum in Wangen gelesen. Das ist von Martin Walser mitgegründet worden und da sitze ich seit Jahren in der Jury und die Juryleute dürfen auch mal lesen. Dieses Mal hab ich einen Zyklus gelesen, den hab ich genannt: „Leute in meiner Nähe“. Da waren also irgendwelche Spinnen drunter, die mir unverschämt zu nahe kamen, oder ein Hund, der in einem Tarnjäckchen über den Zebrastreifen lief und ich hab richtig fett Lob bekommen.
(Johanna Walser schrieb daraufhin im Südkurier: "Wie eine poetische Anstiftung, die Welt neu zu erforschen, die noch unentdeckt ist, und neu zu sehen, erzählt aus der Perspektive eines sehr interessanten Ichs, wurden die immer wieder ironisch gebrochenen, selbstironischen Texte von Anna Breitenbach erlebt und weckten die Hoffnung, mehr davon bald lesen zu können.")
AB: Damit hat sie Recht. Als Künstler lernst Du einfach eine andere Art des Sehens, während andere - vielleicht völlig in Gedanken – an dieser Stelle gar nichts wahrnehmen.
Du bist Dichterin, Fotografin, Poetry-Slammerin, manche nennen Dich Multiartistin - gibt es ein klassisches Genre, dem du dich zuordnen würdest?
AB: Wenn mich früher jemand gefragt hat, was ich mache, hab ich immer knapp und maskulin! gesagt: Schreiber. Wie „Flieger“. Hat einen gewissen Drive und vermittelt einen guten Überblick. Dichterin triffts aber schon auch, Poetin würde ich heute sagen. Seit ich jetzt auch so viel fotografiere, kommt das Genre noch dazu, ich mach aber auch gerne Performances, spiele gern mit Zuschauern.
Deshalb sind meine Lesungen auch nicht so, dass der Lesende so auf dem Sockel sitzt und die anderen dürfen nur zuhören, konsumieren. Das hab ich zwar auch schon gemacht, aber das finde ich eher langweilig. Ich mache zum Beispiel Genusslesungen in einigen Restaurants in Esslingen und Stuttgart oder Lesungen in Entertainementform. Also passt Entertainer fast auch, weil ich bei diesen Programmen nicht nur lese, sondern auch erzähle, wie ich was gefunden habe, wie sich der Text rausgebaut hat oder warum die Nachbarin im Gedicht vorkommt.
Und meine Zuhörer finden das auch spannend, dass sie nicht nur fertige Gedichte präsentiert bekommen, sondern auch die Geschichten dazu und Berichte aus der Werkstatt.
Dann interessieren mich auch diese Slamsachen, die ich seit 2009 mache, die sind schon sehr befruchtend für mich.
Hast Du Lampenfieber, kostet Dich ein Auftritt Überwindung?
AB: Ne, also ich hab schon eine exhibitionistische Seite. Dieses Lesen und Spielen, das mach ich schon wirklich gerne und ich bekomme richtig Entzugserscheinungen, wenn ich mal vier Wochen keine Lesungen hatte.
An welchen Projekten arbeitest Du derzeit, auf was können wir uns freuen?
AB: Im Moment tut sich recht viel, die Sache mit den Stuttgarter Dichtern kommt, der Fotoband zum Wäldchen ist in Arbeit, die neue Zeitschrift „Das Gedicht“ kommt heraus: „Der Swing vom Ding. Die Lust am Objekt“, mit einem Gedicht von mir und Vorstellung, Lesung im Münchner Literaturhaus, ein Band mit erotischen Gedichten und Zeichnungen mit dem Schweizer Maler Heinz Egger ist im Werden, dann gibt es eine neue Ausstellungsidee: „Poetische Kombis“… Ich bin gut ausgefüllt mit Arbeit und das gut mir auch gut.
Mein Hauptprojekt ist ein neuer Lyrikband, der heißt „Handbuch für Haus, Frauen, Männer,...“ und ist sortiert in Kapiteln von „Haus und Hof“ über „Alltag und Zumutung“, „Schönheit und Schatten“, „Krankheit und Krise“, „Lieben und Leiden“, „Not und Tod“ und nach diesem Kapitel muss natürlich noch ein stärkendes Kapitel kommen und das heißt „Zeichen und Wunder“.
Und dann mache ich natürlich gern Poetry to go, zum Beispiel Kalender oder Postkarten, Poster und Schürzen die es im DaWanda Shop poetry works zu kaufen gibt.
Dann wünschen wir Dir weiter viel Erfolg, vielen Dank für das Gespräch.
www.annabreitenbach.de Film Guerrilla Gardening – Streuen wir Wörter in die Stadt!

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