Meine Mutter kennt meine Empfindlichkeit gegenüber Nebengeräuschen. Gegenüber allem, was nicht “dazu” gehört. Weshalb in meinem Umfeld normalerweise alle Gerätschaft aus ist, die den Hintergrund verlärmt.
Heute ist ein Sonderfall, erklärt die Mutter, gestern waren Wahlen in Meck-Pomm und heute ist sie an dem amtlichen Endergebnis interessiert, welches aus dem Radio zu erwarten sei.
Die Ergebnisse der Wahlen interessieren auch mich, insbesondere die Wahlbeteiligung. Daher habe ich heute nichts gegen Radio und der Berliner Rundfunk spielt die Rolling Stones.
…
I see a line of cars and they’re all painted black
With flowers and my love, both never to come back
I see people turn their heads and quickly look away
Like a newborn baby it just happens ev’ryday
…
Ich werde aufmerksam und denke “komisch”. Erinnere mich plötzlich an meine pubertierende Zeiten zu Beginn der Siebziger, da die Familie nur einen Fernseher besitzt. Ohne Fernbedienung – die ist bei drei Programmen auch nicht vonnöten.
Wir gucken zu dritt und Vater ist Programmdirektor. Es läuft der Montagabendfilm des DDR-Fernsehens, heute: “Die Schrammeln”.
… Josef, der mit Strohmayers Tochter verlobt ist, verliebt sich in Milli, die seine Liebe erwidert. Auch Johann, dem Milli nach einem Heurigenbesuch „ein Busserl“ gegeben hat, schwärmt heftig für sie. Daraufhin kommt es wieder zu einem heftigen Streit zwischen den Brüdern und die Schrammeln trennen sich. …
Rotz, Schmalz, Kitsch und doofe Texte. Doch Vater ist gerührt. Er mag kurze Haare (“lange Haare – kurzer Verstand”), schmale Krawatten und “richtje scheene Schlager”.
Er kommentiert das TV-Erlebnis mit dem bemerkenswerten Satz:
“Das waren noch Zeiten!”
Mir unverständlich.
Der Schrammelfilm markiert das Jahr 1944, der Krieg war zu diesem Zeitpunkt bereits verloren, doch an der Heimatfront wurden Gassenhauer produziert. Es wurde – statt sich zu ergeben – geschrammelt, wider besseren Wissens.
DAS waren wirklich noch Zeiten!
Nach dem Montagabendfilm kommt regelmäßig der Schwarze Kanal von und mit Karl-Eduard von Schnitzer. Dazwischen vollzieht sich landesweites kollektives Umschalten auf die Kanäle des Klassenfeindes. ARD kann man Anfang der Siebziger auch in Halle an der Saale sehen, ZDF nicht.
Die ARD liefert “Beatclub” und – Zufälle gibt es aber auch! – just im Moment des Umschalten meines Vaters singt Marc Bolan & T-Rex “CHILDREN OF THE REVOLUTION”.
Seinerzeit war Marc Bolan – Gott sei seiner Seele gnädig – ein Idol!
…
I drive a Rolls Royce
‘Cos its good for my voice
“Damit ist der Beweis erbracht”, kommentiert der Vater das schöne Lied, “heutzutage ist alles Scheiße.”
Doch “das damals” war wenigstens noch “Musik”
Es war das erste Mal in der Pubertät – erinnere ich mich genau – dass ich nicht diskutierte.
Er ist sinnlos, erkannte ich just in diesem Moment.
Weil es nicht um Musik geht.
Es geht ging immer nur um Werte und um den Hass der einen Generation gegenüber der anderen. Weil die einen ihr verpfuschtes Leben unter den Nazis (und kurz danach) erst jetzt – Anfang der Siebziger – langsam erkannten, DIES aber nie zuzugeben bereit waren und dem gegenüber die andere, die jüngere Seite jeder Gesellschaft in Ost und West sie DESHALB für Loser hält hielt. Und sich von ihnen via Kleidung und Musik abzugrenzen versuchte.
Heute hört die Mutter Rolling Stones und fragt mich, ob es mir nicht zu laut sei.
Verdrehte Welt.
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