Softwareevolution in Vielfalt

In einem früheren Posting habe ich über Rahmenbedingungen für die Evolution von Software nachgedacht. Den dort genannten möchte ich nun noch eine hinzufügen: die Vielfalt.

Ich glaube, dass Evolution eines Ganzen schwieriger ist, als die Evolution von Vielem, das eine Summe hat.

Das Leben auf der Erde ist nicht ein Organismus (auch wenn es die Gaia-Hypothese gibt), sondern es besteht aus unzähligen. Und es evolviert in jedem einzelnen.

Genauso ist ein Betriebssystem wie Unix oder Windows nicht “ein Ding”, sondern besteht aus Hunderten oder gar Tausenden kleinen “Dingen”, die erst in Summe das ergeben, was wir mit dem Namen “Unix” oder “Windows” betiteln.

Mein iPhone ist einerseits ein “Ding”, eine Hard-/Softwareplattform. Andererseits ist es etwas, das sich entwickelt. Die Summe einer wachsenden Zahl von Teilen, den Apps. Mein iPhone evolviert sozusagen; es passt sich meinen Bedürfnissen ständig an. Das ist ganz einfach möglich, weil es nicht monolithisch ein “Ding” ist wie mein vorheriges Handy. Die Evolvierbarkeit steckt in der Möglichkeit zur Vielfalt.

Ich kann meine Schreib-Anforderungen iterativ immer besser erfüllen, weil ich meine Schreib-Apps getrennt von den Diagramm-Apps und die wiederum getrennt von den Musik-Apps “weiterentwickeln” kann. Ich kann mit “Notizen” beginnen, zu “Nebulous” weitergehen, auf “Pen & Paper” umsatteln und schließlich bei bei “Simplenote” enden.

Die Erfüllung anderer Anforderungen, ist von dieser Weiterentwicklung nicht betroffen. Ich kann auch jederzeit meinen Fokus wechseln. Mal möchte ich beim Schreiben vorankommen, mal möchte ich die Fotonachbearbeitung verbessern.

Diese Offenheit zur Evolution eines Ganzen durch feingranulare Evolution einer Vielfalt von Summanden, halte ich für eine Voraussetzung für evolutionären Erfolg. Unix hat es in Software vorgemacht, der PC hat es in Hardware nachgemacht, das Web hat dieses Prinzip ins Extreme getrieben, das iPhone setzt wieder darauf.

Voraussetzung für eine derartige Evolution der Vielfalt ist eine Plattform. Bei Unix war es der Kernel, würde ich sagen, beim PC der Bus mit seinen Slots für die Erweiterungskarten, beim Web TCP+DNS+HTTP+HTML, beim iPhone Hardware+iOS+AppStore.

Und was bedeutet das für Ihre Anwendung?

Wenn der Kunde kommt und sagt, er wolle “eine Anwendung”, dann nehmen Sie das “eine” nicht so genau. Ihr Kunde will einen Anforderungsberg abgetragen bekommen. Klar. Aber letztlich ist ihm egal, ob das mit 1 Anwendung (lies: EXE) geschieht, solange es praktikabel und nachhaltig geschieht.

Denken Sie also nicht reflexhaft an 1 großes Fenster für die GUI, in dem sich irgendwie alles abspielt. Denn das zwingt den Code in schnell in 1 großen Kasten, in dem er leicht verklebt.

Stattdessen überlegen Sie, wie Sie die Lösung als Summe einer Vielfalt von Apps beschreiben können. Ja, ich meine App in der Linie von iPhone oder iPad Apps. Das sind kleine, sehr fokussierte Programme. Sie dienen einem überschaubaren Zweck. Ihre Usability ist zu dessen Erfüllung maximiert.

Deshalb sehen die Apps auch alle sehr unterschiedlich aus. Eine Foto-App ist ganz anders als ein Spiel und das unterscheidet sich von der Mindmap-App. Das nehmen wir ihnen nicht übel, sondern begrüßen es. Auch, dass wir auf dem iPhone nur jeweils 1 App zur Zeit sehen, stört uns meist nicht. Im Gegenteil: so fokussieren wir uns.

Ich glaube, dass wir diesen Ansatz auf unsere “Geschäftsanwendungen” übertragen sollten. Wir sollten sie zerschlagen in eine Vielfalt von Apps. Und jede dieser Apps kann separat evolvieren.

Beispiel Faktura. Landläufig würde ein Softwarehaus für die Anforderungen, die hinter dem Begriff stehen, eine Anwendung bauen. Eine EXE, die auf allen Desktops im Büro installiert wird. (Und vielleicht noch ein SQL Server auf einem Server-Rechner.) Alle Funktionen würden über ein Hauptfenster erreicht und liefen im Faktura-Prozess ab.

Jede Änderung würde dann notwendig die eine Codebasis betreffen. Unschöne Kopplungen würden bei aller Mühe immer wieder entstehen. Die Evolvierbarkeit würde schnell sinken. (Ja, dagegen kann man sich mit Prinzipien und Praktiken stemmen, doch die grundlegend monolithische Sicht auf die Anforderungen macht es schwer für sie zu greifen.)

Wie anders würde die Entwicklung verlaufen können, wenn das Projekt mit evolvierender Vielfalt angegangen würde. Dann gäbe es eine App für die Rechnungslegung, eine App für die Stammdatenpflege, eine App für den Zahlungseingang, eine App für das Mahnwesen und eine App für den Chef. Vielleicht auch noch eine App für den Import und Export. Oder noch eine App für die Gestaltung unterschiedlicher Rechnungsvorlagen.

Es gäbe nicht mehr eine große Codebasis. Es gäbe ja nicht mehr eine Anwendung, sondern viele, ein Anwendungssystem. Die könnten Codeteile gemeinsam verwenden. Aber sie wären grundsätzlich sehr deutlich getrennt. Änderungen würden dann nicht mehr zu ungewollten Kopplungen in der Codebasis führen, da sie meist nur eine App zur Zeit beträfen. An manchen Apps würde mehr geschraubt als an anderen. Apps, die später in Angriff genommen würden, könnten intern anders aufgebaut sein, als frühere Apps, weil man schon aus Fehlern gelernt hat. Überhaupt müssten Entscheidungen nicht immer für “alles” getroffen werden; keine Notwendigkeit für 1 allumfassende Datenbank, 1 allumfassendes Datenmodell, 1 alle glücklich machende Persistenztechnologie, 1 GUI-Technologie usw.

Eine App könnte ihre Daten in SQL Server speichern, die andere in MongoDb. Die eine App könnte noch mit einer WinForms-Benutzerschnittstelle versehen sein, die andere WPF benutzen. Und wenn in einer App die Unwartbarkeit erreicht sein sollte, dann könnte die ganz unabhängig von allen anderen neu gemacht werden.

Ich kann nur Vorteile in einer solchen Vielfalt erkennen. Sie eröffnet Chancen, ohne einzugrenzen.

Es gibt lediglich eine Hürde: die in unseren Köpfen. Wir müssen Anwendungen so denken wollen. Technisch spricht nichts dagegen, sondern alles dafür. Auch sollten uns die genannten Präzedenzfälle ermutigen. Wir alle lieben Plattformen, die wir stückweise erweitern, die wir evolvieren können. Warum also nicht die Vorteile feingranularer Vielfalt für unsere eigenen Projekte nutzen?

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PS: Einige Leser werden nun denken, ich würde damit vorschlagen, dass eine GUI-Shell oder ein Basisframework wichtig seien. Ohne etwas Gemeinsames unter allen Apps oder über allen Apps sei solche Vielfalt nicht zu machen. Nichts könnte mir jedoch ferner liegen. Anwendungsevolution durch eine Vielfalt an Apps hat keine Voraussetzung; nichts muss erstmal eingerichtet werden. Jede App kann unabhängig von anderen jederzeit begonnen werden. Das Betriebssystem als Plattform reicht.

PPS: Das Ganze nicht als Monolith zu sehen, sondern als Summe von vielen Teilen, sollte sich natürlich durch alle Ebenen einer Software ziehen. Die ganze Anwendung besteht aus unabhängig evolvierbaren Apps. Jede App besteht aus unabhängig evolvierbaren Bausteinen. Und diese Bausteine wiederum sind unabhängig evolvierbar. Apps sind mithin Ausdruck der Selbstähnlichkeit von Software.


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