Social Networks und Online-Betriebsplattformen: die nächste Systemrelevanz

Von Stefan Sasse
Immer wieder bekommen wir von einschlägiger, weil gängigerweise uninformierter, Stelle zu hören, dass die sozialen Netzwerke unser Leben verändern. Das Internet hat bereits jetzt gewaltige Auswirkungen auf das Freizeit- und Sozialverhalten und Jugendlichen, eine Zäsur, die wohl allenfalls mit dem Aufkommen des Fernsehens vergleichbar ist - wenn überhaupt. Das Internet und seine Plattformen haben aber nicht nur unser Sozialverhalten bedeutend geändert und Lebensabläufe variiert; auch das Konsumverhalten hat sich geändert. Musik kann inzwischen statt auf teuren, einschränkenden Tonscheiben im teuren, einschränkenden iTunes-Shop erstanden werden, und Videospiele werden über allerlei Plattformen wie Steam oder Origin gekauft, während Amazon sich gerade anschickt, den Büchermarkt des 21. Jahrunderts zu dominieren. Diese Entwicklungen verlaufen alle im Schatten von Facebook, das die Aufmerksamkeit und Lernkapazität der meisten Zeitgenossen hinreichend fesselt. Der Aufstieg dieser Systeme allerdings schafft einige Probleme, die in der öffentlichen Debatte hinter so fesselnden Fragestellungen wie der Strafbarkeit von Straftatbeständen nach Ankündigung auf Facebook klar zurückstecken müssen. Im Klartext: kommt hier die nächste Systemrelevanz-Krise auf uns zu?
Ich denke: ja. Leisten wir uns für einen Moment die absurde Vorstellung, dass das Internet auf seinem jetztigen Wachstumstrend mit ausschließlich den heute bekannten Anbietern und Programmen fünf Jahre weiter läuft. Wir haben dann folgende Entwicklungen: - Facebook hat sein praktisches Monopol auf dem Sozialnetzwerksmarkt ausgebaut. Es gibt kaum mehr Menschen, die sowohl online sind als auch kein Facebook-Konto haben. Ein solches nicht zu besitzen wird ähnlich wirken wie heute das Nicht-Vorhandensein einer Emailadresse. Gleichzeitig hat Facebook noch gänzlich andere Seiten des Lebens absorbiert; nicht nur dient es der Alltagskommunikation und als globaler Termin- und Veranstaltungskalender; es ist außerdem "Lebensarchiv" für viele Menschen geworden und enthält elaborierte Fotoalben und ähnliche Archive. - Software wird hauptsächlich über Vertriebsplattformen wie Steam oder Origin vertrieben. Der Verkauf von Hardware im Laden existiert zwar noch; die Programme sind aber trotzdem an diese Plattformen geknüpft und laufen nur über sie. Immer mehr Menschen kaufen Software deswegen gleich direkt bei diesen Anbietern. Dasselbe gilt auch für Musik. iTunes und andere sind die Hauptverkaufsquellen und deutlich billiger als die realen Tonträger, die fast nur noch von Liebhabern in Sondereditionen gekauft werden. Der stetig wachsende eBook-Markt wird größtenteils von Amazon dominiert, die Bücher am besten an Kindle, zumindest aber an ihre eigenen Plattformen binden. 
Nun haben diese Entwicklungen für den Kunden erst einmal einen riesigen Schlag Vorteile. Er erhält nicht nur alle Leistungen aus einer Hand, besitzt ein zentrales Konto und kann jederzeit von überall her darauf zugreifen (und wer kann schon von Hamburg aus an sein Bücherregal in München kommen?). Er profitiert außerdem von gesunkenen Preisen, da die Mittelsmänner komplett eliminiert wurden. Die Verknüpfungen erlauben außerdem zielgerichteteres Shopping als je zuvor. Die Nachteile dagegen werden nicht verschwunden, sondern eher verstärkt sein: die Kunden sind von der jeweiligen Plattform ebenso abhängig wie die Anbieter, werden ausspioniert und durch Beschränkungen gegängelt. Inzwischen hat sich aber jeder daran gewöhnt, und die neue, damit aufgewachsene Generation sieht kein großes Problem mehr. 
Und nun passiert etwas, an das vorher kaum jemand gedacht hat: eine dieser Plattformen geht pleite. Im Falle etwa von iTunes würde das bedeuten, dass Millionen Nutzer auf der ganzen Welt plötzlich nicht mehr auf die Produkte zugreifen können, die sie rechtmäßig erworben haben. Gleiches gilt für den Fall etwa eines Pleitegangs von Steam. Wird in einem solchen Fall nicht ein gewisser Handlungsdruck entstehen, die Funktionsweise einer solchen Plattform aufrechtzuerhalten? Wird sich dieser Handlungsdruck nicht gerade an den Staat richten? Und, vor allem, macht es nicht einen gewissen Sinn, die Plattform in diesem Fall zu retten? Und würde es nicht Sinn machen, die betreibenden Unternehmen vorab zu verpflichten soweit vorzusorgen, dass es in einem solchen Fall möglich ist, die verwendete Software auch ohne die jeweilige Plattform quasi in einer "reinen" Variante zu beziehen und zu betreiben, wie das bei normalen Programmen oder MP3 der Fall ist, anstatt irgendwelche Hürden zu errichten? 
Noch viel interessanter ist die Frage eines Scheiterns von Facebook. Während man den obigen Fall mit einem "Scheiß auf die Nerds, selber Schuld" beiseite wischen könnte, wird es spätestens bei Facebook wahrhaftig interessant. Man stelle sich die Reaktion der US-Regierung vor, wenn Facebook pleite geht und ein chinesischer Staatsfonds den Konzern und all seine Server kaufen will! Von der Reaktion der vielen Millionen Nutzer, deren mühsam aufgebaute und gehegte Zweitexistenz - die ja auch im Alltag immer bedeutender wird - plötzlich weg ist, oder von Firmen, deren virale Netzwerke und Werbeplattformen mit einem Schlag im Nichts verschwinden gar nicht zu reden. Die Idee, solche Plattformen für systemrelevant zu erklären ist da nicht weit hergeholt. Natürlich ist es derzeit schwer absehbar, wie die Entwicklung in Zukunft weitergehen wird, aber die Bedeutung der Onlinewelt und der sie vernetzenden Plattformen dürfte steigen. Und dann werden wir mit einer Reihe von Problemen konfrontiert werden, die bislang noch kaum jemand je geäußert hat.

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