Von Jürgen Voß
Was passiert, wenn Etikettenschwindel zum Programm wird
Mit „So viele Erwerbstätige wie noch nie zuvor!“ macht heute, am 3. Januar, die Süddeutsche Zeitung auf, mit der Unterzeile “Erfolgsserie am deutschen Arbeitsmarkt: Auch 2012 stiegt die Beschäftigtenzahl – um mehr als 400 000. Das ist der sechste Rekord in Folge.“ Und in dem dazugehörigen Kommentar „Bilanz paradox“ beweist Nico Fried, inwieweit sich eine angebliche Qualitätszeitung von den einfachsten journalistischen Standards entfernen kann, wenn die Marschrichtung heißt: Trotz aller Irrungen und Wirrungen, trotz aller Desaster – wir halten die neoliberale Linie durch, egal wie viel Bomben auf den „Bonker“ fallen.
Nico Fried: „Und wie bestellt verkündet gleich am zweiten Tag des Jahres das Statistische Bundesamt … dass die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland auf ein neues Rekordhoch gestiegen sei. Zum sechsten Mal in Folge. In der Regierungszeit Merkels ist die Zahl der Menschen in Arbeit um 2,66 Millionen gewachsen.“
Abgesehen davon, dass das Statistische Bundesamt an sich die Pflicht hätte, im Rahmen der Veröffentlichung solcher Zahlen darauf hinzuweisen, wie kritisch diese einzuordnen sind (dies wird anderenorts von dieser Behörde durchaus getan, siehe weiter unten), scheint der Wirtschaftsjournalist einer Qualitätszeitung (dies möchte die SZ doch wohl sein!?) erst gar nicht darauf zu kommen, diese Zahlen skeptisch zu werten.
Denn sind „erwerbstätige“ Menschen wirklich Menschen, die „Arbeit“ haben? Dazu bemerkenswert nüchtern Frank Messing in der ansonsten alles andere als regierungskritischen Westdeutschen Allgemeinen (WAZ): „Der Megawert (gemeint sind die 41,5 Mio.) ist aber nur auf den ersten Blick ein Grund zum Jubel. Denn in die Statistik fließen sowohl voll sozialversicherungspflichtige beschäftigte Arbeitnehmer ein, als auch Personen mit Arbeitsgelegenheiten (!!! D. V.), Wehr –Ersatz- und Sozialdienstleistende und mithelfende Familienangehörige (und einige mehr, dies nur als Ergänzung, so z. B. über 7 Mio. 400 Euro Beschäftigte, d. V.). Die Erwerbstätigenzahl erfasst also auch die kleinste Tätigkeit. Sie sagt nichts darüber aus, ob sich der Arbeitsmarkt stabilisiert hat und ob die Menschen von ihren zum teil sehr geringen Beschäftigungsverhältnissen auch leben können.“ Ein herzliches Dankeschön an den Journalisten aus der Provinz! .
Denn in der Tat, die Wirklichkeit sieht – wie wir alle wissen und besonders die jüngeren Menschen jeden Tag am eigenen Leibe zu spüren bekommen - ganz anders aus:
„Der Anteil der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen ist in den letzten 20 Jahren von 79% auf 67 % gesunken, atypische Beschäftigungsformen im gleichen Zeitraum von 13 auf 22% gestiegen“(siehe Deckblatt Kapital13 des Statistischen Jahrbuchs 2o12, S. 343.)
Dazu als Ergänzung aus dem gleichen Jahrbuch: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten ist von 2000 bis 2011 (letztes Berichtsdatum des Jahrbuchs) von 23,89 Mio. auf 22,68 Mio., also um 1,2 Mio. zurückgegangen, gleichzeitig stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 3,93 Mio. auf 5,67 Mio. (siehe Stat. Jahrbuch 2012 S. 360. )
Inzwischen (Oktober 2012) liegt die SV-Beschäftigtenzahl bei 29,445 Mio., davon 22,81 Mio. Vollzeit- und 7,164 Mio. Teilzeitbeschäftigte (siehe neuester Bericht der Bundesagentur für Arbeit).
Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten reduziert sich noch um 1,5 – 1,6 Mio. Auszubildende, so dass wir sage und schreibe noch etwas über 21 Mio. SV-Beschäftigte in Vollzeit haben.
Auf der einen Seite also 41,5 Millionen Erwerbstätige und auf der anderen Seite 21 Millionen Vollzeitbeschäftigte und rund 8 Millionen Teilzeitbeschäftigte in „Normalarbeitsverhältnissen“ mit „voller Integration in die sozialen Sicherungssysteme“ (Stat. Jahrbuch 2102). Wie passt das zusammen?
Ist die veröffentlichte Erwerbstätigenzahl wirklich eine Erfolgsmeldung oder nur Etikettenschwindel, wenn laut ILO (International Labour Organisation) Konzept jede Tätigkeit, die nur eine Stunde pro Woche umfasst, als Erwerbstätigkeit verstanden wird? Im Datenreport 2011 äußert sich das Statistische Bundesamt selbst kritisch dazu: „Außerdem weicht die Definition von ILO zur Erwerbsarbeit deutlich vom Alltagsverständnis (von Erwerbstätigkeit, ergänzt v. V.) ab, indem etwa bezahlte Tätigkeiten bereits ab dem Umfang einer Stunde pro Woche als Erwerbstätigkeit zu erfassen sind.“ (Datenreport 2011 S. 99)
Aus neoliberaler Sicht macht der Split zwischen Normalarbeitsverhältnissen und der beeindruckenden Erwerbstätigenzahl ein Zeichen für die gelungene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sein, aus sozialpolitischer Sicht ist die Diskrepanz zwischen 21 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen und angeblich 41,5 Millionen Erwerbstätigen alarmierend, denn sie beweist, dass viel mehr Menschen arbeiten wollen und können, als „normale“ Arbeitsplätze vorhanden sind. Es sei denn, man folgt dem auch schon hier und da zu vernehmenden Zynismus, dass die Menschen ja bereitwillig und gerne nicht „normal“ beschäftigt sind und lieber in (schlecht) bezahlten Teilzeitarbeitsplätzen oder – weit schlimmer – mit Gelegenheitsarbeiten ihr Dasein fristen wollen.
Dass eine Politik, die diese „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes durch ein ganzes Bündel von Deregulationen (weitere hat Herr Rössler ja empfohlen) hervorgerufen hat, nun mit solchen Erfolgsmeldungen selbstgefällig Propaganda macht, kann nicht weiter verwundern. Dass aber mittlerweile ein solch durchsichtiges Vorgehen in der Öffentlichkeit nicht mehr auf Gegenwehr trifft, sondern sich dabei sogar noch des Beifalls der Journaille erfreuen kann, die diesen Unsinn völlig unkritisch nachplappert (Ausnahme: siehe oben!) ist der eigentliche Skandal.