So macht man gute Titel (2)

Im zweiten Teil meiner kleinen Serie über gute Titel widme ich mich einem nachgerade tragisch zu nennenden Phänomen: Der Titel ist besser als das Werk selbst.

Das Phänomen ist selten, doch wenn es auftritt, ist es für beide Seiten ausgesprochen ärgerlich. Für den Leser (oder Hörer), weil er sich ein Buch, eine Eintrittskarte oder CD gekauft hat und schon von der ersten Zeile an bitter enttäuscht wird. Und für den Künstler, weil das Kompliment “Toller Titel” genauso vergiftet ist wie das Kompliment einer Sängerin an ihre Kollegin: “Dein Kleid war wunderschön!”

Ein solcher Titel-Inhalt-Total-Fail ist Ulrich Schlotmanns Tausend-Seiten-Schwarte “Die Freuden der Jagd”. Als man mir sagte, dass es sich nicht um einen Försterroman der Jahrhundertwende, sondern um einen experimentellen Prosatext von 2009 handelte, war ich von der herrlich inkorrekten Überschrift zunächst begeistert. Ich war gespannt, wie der Autor die Kluft zwischen archaischen Jägerfreuden und Knäckebrot-Avantgarde überbrücken würde.

So geht das 1000 Seiten lang

…so geht das 1000 Seiten lang…

Leider stellte sich heraus: Er tat es überhaupt nicht. Die Jägerfreuden waren mit dem Titel vorbei. Der Text entpuppte sich als eine narzisstische, typographieverliebte Wortspielerei, die – über tausend Seiten erbarmungslos durchgezogen – reichlich verbiestert und humorlos daherkam. Spaß geht anders. Ich legte das Buch beiseite.

Ein anderer Titel, der besser ist als das entsprechende Werk, ist Theodor Storms Novelle Aquis submersus. Das Buch versucht, eine – wenig überzeugende – Imitation des literarischen Stils des 17. Jahrhunderts mit der Provinzialität des deutschen Realismus des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Schon der erste Satz ist kaum erträglich:

In unserem zu dem früher herzoglichen Schlosse gehörigen, seit Menschengedenken aber ganz vernachlässigten “Schloßgarten” waren schon in meiner Knabenzeit die einst im altfranzösischen Stile angelegten Hagebuchenhecken zu dünnen, gespenstischen Alleen ausgewachsen; da sie indessen immerhin noch einige Blätter tragen, so wissen wir Hiesigen, durch Laub der Bäume nicht verwöhnt, sie gleichwohl auch in dieser Form zu schätzen; und zumal von uns nachdenklichen Leuten wird immer der eine oder andre dort zu treffen sein.

Aquis submersus

Aquis submersus

Der Titel allerdings ist toll. Klar, er ist ebenfalls rückwärtsgewandt. Lateinisch eben. Aber gleichzeitig ist er auf seltsame Weise modern. Anders als andere Werke seiner Zeit (“Der Schimmelreiter”, “Immensee”, “Effi Briest”, “Unterm Birnbaum”, “Wanderungen durch die Mark Brandenburg”) beschreibt er keine Person, keine Handlung und keinen Ort, sondern gewissermaßen einen Seelenzustand, eine verdichtete menschliche Grunderfahrung.

Aquis submersus – in den Wassern versunken. Das Lateinische an sich und konkret die abstrakte Partizipialkonstruktion hebt die Formel ins Allgemeine und Überzeitliche. Man erwartet ein Werk in der Art von William Turners späten Bildern: das ganze Dasein, die ganze Welt nimmt die Form des Im-Wasser-Untergehens an. Alles wird Bewegung, alles Sturm, alles Gischt, alles Todeskampf, alles Untergang.

Doch Storm ist kein Turner. Er lässt dem großartigen Titel kein großartiges, verdichtetes Werk folgen. Turner selbst hingegen, der das obenstehende Gemälde “Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth” nennt, gehört zur anderen (und häufigeren) Künstlerspecies, dessen banale Titel mit seinen grandiosen Werken nicht mithalten können.


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