So liebt die Türkei

So liebt die Türkei

Viele Türkinnen und Türken unterscheiden sich in ihren Vorstellungen in nichts
 von ihren christlichen mediterranen Nachbarn. Unterschiede werden gleichwohl aber
zu einigen Ländern Mittel- und Nordeuropas deutlich. Andere Vorstellungen von
Türkinnen und Türken hingegen würden wohl auch diese jungen Leute aus einer
Istanbuler Disko befremden.

Heute mal keine Analyse wie gestern, sondern einfach ein schon etwas älterer Artikel, den man mal auf seine Klischees und Stereotypen hin betrachten könnte. Gleichwohl sind einige Umfrageergebnisse durchaus interessant. Aussagekräftiger werden sie jedoch nur dann, wenn man mehrere Jahre und Jahrzehnte zum Vergleich heranzieht, und außerdem diese mit benachbarten Ländern des südlichen Europas vergleicht. Dazu müsste man ggf. in eine Bibliothek gehen, um die alten Stern-Ausgaben einzusehen.
Und wie sieht es hier bei uns aus? Welche Vorstellungen haben die türkischstämmigen Migranten zum Thema Liebe und Sexualität? Sind diese schon mehrheitlich an die Mehrheitsgesellschaft angeglichen, oder verharren sie mehrheitlich in ihren Vorstellungen noch bei denen ihrer Eltern und Großeltern aus den anatolischen Dörfern?
Antworten könnte eine Fachtagung übermorgen in Berlin geben, in die jeder herzlich eingeladen ist:
Sexuelle Identität und Selbstbestimmung in muslimischen Milieus

Donnerstag, 15. März 2012
18.00 – 20.30 Uhr
Friedrich-Ebert-Stiftung
Politische Akademie
Konferenzsaal der Friedrich-Ebert-Stiftung
Haus 1
Hiroshimastraße 17
10785 Berlin
Telefon: 030 269 35 - 7142
Die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen ist ein hohes Rechtsgut, welches mit Ehrkulturen und patriarchalen Strukturen in einem Spannungsverhältnis steht. In traditionell orientierten Milieus wird den Themen „Sexuelle Identität und Selbstbestimmung“ deshalb zumeist mit Vorurteilen und Tabuisierung begegnet. Das führt vor allem bei jungen Menschen zu Unsicherheit und Ablehnung. Infolgedessen sehen sich Lehrkräfte sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen u. a. häufig mit homosexuellenfeindlichen Einstellungen unter Jugendlichen konfrontiert. Die Berufung auf religiöse Normen und Werte ist hierbei nicht selten ein maßgeblicher Faktor. Bei der Fachtagung wird u.a. der Frage nachgegangen, was „Sexuelle Selbstbestimmung“ aus islamischer Sicht bedeutet. Verschiedene Ansätze sexueller Aufklärung und Möglichkeiten der Kooperation sollen vorgestellt und diskutiert werden. Ziel ist es, das Wissen um die islamischen Perspektiven und die Handlungskompetenzen der handelnden Akteure zu erhöhen.
Sie sind herzlich eingeladen.
Folgendes Programm ist vorgesehen:
18.00 Uhr  Begrüßung und Einführung
Dr. Tobias Mörschel
Friedrich-Ebert-Stiftung
18.10 Uhr  Film
Islamische Positionen zum Thema Homosexualität
Impulse zum Thema:
Gabriele Heinemann
Leiterin von Mädchentreff MaDonna
Claudia Dantschke      
ZDK, Berlin
Ahmad Mansour
Projekt „Heroes“, Berlin
Jörg Steinert
Geschäftsführer LSVD Berlin-Brandenburg
19.00 Uhr Podiumsdiskussion
Lamya Kaddor
Islamische Religionspädagogin,  
Autorin und Erste Vorsitzende des  
Liberal-Islamischen Bundes e.V.
Andreas Ismail Mohr
Islamwissenschaftler, Berlin
Ahmad Mansour
Projekt „Heroes“, Berlin
Ulrich Keßler
Vorstand LSVD Berlin-Brandenburg
Moderation:
Margarete Steinhausen, rbb
20.30 Uhr Ende der Veranstaltung
Der Titel der Serie der Wochenzeitschrift Stern lautet:
Stern-Serie Teil 8
So liebt die Welt - Türkei
09.08.2007:
Infokasten:
  • WER KLÄRT AUF?
Nur 25 Prozent der jungen Türken werden von ihren Eltern aufgeklärt, im Alter zwischen 14 und 15 Jahren. Mit einigen Ausnahmen wird das Thema an den Schulen gemieden, obwohl sich 57 Prozent der Türken im Unterricht mehr Information über Sex wünschen.
  • WIE LERNT MAN SICH KENNEN?
In den Städten treffen Männer und Frauen wie bei uns aufeinander nämlich im Job oder an der Uni. Auf dem Land und unter den Migranten, die aus der Provinz in die Städte gezogen sind, ist es dagegen normal, dass Ehen von den Eltern arrangiert werden, vorzugsweise unter Verwandten: Im Osten der Türkei sind nach Schätzungen beinahe ein Drittel der Ehepartner blutsverwandt.
  • WANN HABEN TÜRKEN IHR ERSTES MAL?
Durchschnittlich mit fast 18 Jahren und somit eher spät (zwei Jahre später als Deutsche). Sex vor der Ehe haben gut 66 Prozent der männlichen und gerade einmal 8,5 Prozent der weiblichen Studenten. 15 Prozent der jungen Frauen zwischen I5 und 19 sind verheiratet. In traditionell lebenden Familien muss nach der Hochzeitsnacht immer noch ein blutiges Laken präsentiert werden.
  • WELCHE ROLLE SPIELT DIE PROSTITUTION?
Sie ist legal, für die meisten jungen Männer sind Prostituierte die einzige Möglichkeit Sex vor der Ehe zu erleben.
  • WANN UND WIE WIRD GEHEIRATET?
Nach solchen Zahlen sehnt sich der Vatikan: 92 Prozent der Türken heiraten im Lauf ihres Lebens, jedes Jahr wird kaum mehr als eine von 1000 Ehen (1,28) geschieden. Männer heiraten im Durchschnitt mit 28, Frauen mit 24 Jahren. Ober 80 Prozent der Ehen werden nicht nur vom Standesbeamten, sondern auch vom Imam geschlossen, gut 8 Prozent sogar ausschließlich von den islamischen Schriftkundigen, wobei diese Ehen rechtlich nicht anerkannt sind. Obwohl die Vielehe in der Türkei seit 1925 verboten ist, hat nach Schätzungen jeder neunte Mann in Südostanatolien mehr als eine Ehefrau. Nach dem Gesetz müssen die Ehepartner bei der Hochzeit 18 Jahre alt sein oder mindestens 16, wenn die Eltern zustimmen, und beide müssen sich vorher medizinisch untersuchen lassen. Aber bei den so genannten Imam-Ehen sind insbesondere die Frauen häufig jünger. Erst seit 2006 werden Zwangsehen von der türkischen Religionsbehörde als Sünde gegeißelt.
  • WELCHE RITUALE GIBT ES?
Ihre Initiation erleben türkische Jungen im Alter von drei bis zehn Jahren: „Sünnet“ die Beschneidung, die als wichtiger Schritt zur Männlichkeit angesehen wird. Spätesters mit dem ersten feuchten Traum lernen die Jungen „Abdest“, eine rituelle Waschung, der sich muslimische Männer und Frauen nach jeder sexuellen Handlung unterziehen. In Haushalten ohne fließendes warmes Wasser gilt noch heute: Stellt er abends den Kasel aufs Feuer, will er mit seiner Frau schlafen.
  • WIE STEHT'S MIT DER TREUE?
Einerseits: Kein anderes Land sprach sich bei einer Umfrage der Marktforschungsgruppe
GfK so sehr für die Treue aus: neun von zehn Türken halten eine Affäre für unverzeihlich. Andererseits: Eine Umfrage des Kondomherstellers Durex in 40 Ländern ergab das Gegenteil - Türken sind demnach Weltmeister im Seitensprung (58 Prozent gaben an, fremdgegangen zu sein). Und sie wechseln den Partner häufiger als alle anderen Nationalitäten - glaubt man den Antworten, bringen sie es im Durchschnitt auf 14,5 Bettgefährten.
  • WAS IST VERBOTEN?
Seit 1925 ist das Kopftuch in öffentlichen Gebäuden verboten. Seit 2005 wird Vergewaltigung in der Ehe als Straftat geahndet.
  • IST HOMOSEXUALITÄT AKZEPTIERT?
Sie ist nicht verboten, doch werden Schwule und Lesben geächtet. Geschlechtsumwandlungen sind seit 1988 erlaubt: Istanbul hat die größte Transvestiten- und Transsexuellenszene in der islamischen Welt. Dennoch berichtet Amnesty International von gezielten Medienkampagnen, gewalttätigen Polizei-Übergriffen und Geldstrafen gegen Transsexuelle.
  • WAS MACHT TÜRKEN AN?
Pornografie liegt mit 52 Prozent vorn. 2003 kam der erste Pornofilm auf Kurdisch auf den Markt und fand reißenden Absatz. Leider führt die Türkei auch in einer anderen Statistik: Weltweit wird nirgendwo so oft nach „Kinderpornografie“ gegoogelt.
  • WIE WIRD VERHÜTET?
64 Prozent der Frauen verhüten, davon die Hälfte mit Pessaren und Injektionen.
Weit verbreitet ist noch immer der Coitus Interruptus als einziges Verhütungsmittel. Nur sieben Prozent der Paare benutzen Kondome.
  • WIE HÄUFIG WIRD ABGETRIEBEN?
Seit 1983 sind Schwangerschaftsabbrüche bis zur zehnten Woche erlaubt, die Entscheidung kann die Frau allein treffen. 27 Prozent der verheirateten Frauen hatten schon mindestens eine Abtreibung.
  • WIE STEHT'S MIT DEM NACHWUCHS?
Türkische Frauen bekommen im Durchschnitt 2,4 Kinder (siehe Schaubild). 40 Prozent der Geburten in den vergangenen fünf Jahren waren nach Angaben des Gesundheitsministeriums keine Wunschkinder.
Inka Schmeling"

"Text: Stefanie Rosenkranz Fotos: Tarik Tinazay
Die einen unterwerfen sich der Scharia, andere zeigen sich im Stringtanga, es gibt Vielweiberei ebenso wie moderne Patchworkfamilien. Bei den einen ist die Verwandtschaft stets präsent, Intimität kaum möglich, die anderen brechen mit allen Traditionen.
Auf seiner Schulter hockt ein Rabe, schwarz, zu seinen Füßen sitzt ein Schoßhund, weiß. Haydar Dümen fährt sich durch die langen Haare, grau, und spricht: „Ich bin gewissermaßen der Sultan des Sex.“
So ist es. Seine Majestät, nach eigenen Angaben „etwa 76“, ist der erste Sexualtherapeut der Türkei. Vor gut 50 Jahren zog der anatolische Provinzler nach Istanbul, studierte Neuropsychiatrie und eröffnete seine Praxis, um sein Volk teilhaben za lassen an den Wonnen der Weisheiten von Kinsey sowie Master und Johnson. „Ich schlug ein wie ein Meteorit“, sagt er. „Ich bekam Morddrohungen, man versprach mir in Briefen, gespickt mit Koranzitaten, tausend Tode und anschließend die Hölle. Doch ich habe vor nichts Angst. Ich habe ins Feuer gegriffen und mich bemüht, die Türken aufzuklären.“
ZWAR WIRD DER PIONIER von seinen Raben sowie Hunde-losen Kollegen gern belächelt eine türkische Kreuzung zwischen Moshammer und Doktor Mabuse. Doch niemand bestreitet, dass kaum einer den Geschlechtstrieb der Anatolier so gut kennt wie er. „Obwohl seine Methoden mehr als fragwürdig sind und gemunkelt wird, dass er Paare dazu auffordert, vor ihm miteinander zu schlafen, ist er beliebt wie kein anderer“, sagt neiderfüllt ein anderer Therapeut. „Sie kommen alle zu ihm: Täglich empfängt Dümen in seiner Praxis die Frigiden und Verklemmten sowie die vorzeitig Ejakulierenden und die Impotenten aus dem ganzen Land, rastlos beantwortet er die Fragen verstörter Leser in der Zeitung „Posta“ sowie auf seiner Webseite, unermüdlich stößt er Bücher aus. 23 hat er bis zum heutigen Tag verfasst, „allesamt Bestseller“, sagt er zufrieden. Wobei er selbst sein allerbester Kunde zu sein scheint, davon zeugen die prall gefüllten Regale in seiner Praxis: Vertreten ist nur ein einziger Autor, nämlich er, der Sultan.
Indes zeigte sich sein Volk für die frohe Botschaft vom lustvollen Sex bislang weitgehend unempfänglich. „Ich habe alle Tabus gebrochen. Ich habe gearbeitet wie ein Berserker. An jeder Ampel werde ich von meinen Landsleuten angequatscht. Ergebnis, nach all den Jahren der Schufterei: Nicht mal 50 Prozent aller Türken wissen dass es eine Klitoris gibt!“, ruft Dümer so laut, dass der Bund aufjault und der Rabe aufs Fensterbrett fliegt.
Anschließend schlägt er eines seiner vielen Werke auf und zeigt Bilder von einem pürierten Penis. „Das ist Sex in der Türkei!“, schreit er, worauf der Hund den Raum verlässt. „Das Geschlechtsteil gehört einem jungen Mann, der bei einem Bordellbesuch impotent war. Danach hat er mit dem Hammer draufgehauen.“ Er blättert weiter. „Hier!“ Diesmal ist der Penis tranchiert und bluttriefend. „Ein 14 jähriger, der nicht beschnitten war. Er hat versucht, es selbst zu machen, mit einem Rasiermesser.“ Es folgt die Röntgenaufnahme von einer Flasche, die in einem anonymen Anus steckt.
„Das kommt alles davon, dass man den Eros verbietet", ruft Dümen und fügt matt hinzu: „Es ist eine einzige Katastrophe. In diesem Land treiben es nicht wenige Männer mit einem Esel, bevor sie außer ihrer Mutter je ein weibliches Wesen aus der Nähe zu Gesicht bekommen. Glauben Sie, dass es schön ist für eine Frau, mit einem Mann Sex zu haben, der vorher nur mit einem Esel geschlafen hat?“
Bevor einem auf diese pittoreske Frage irgendetwas einfällt, sagt er: „Sie müssen mich jetzt für zehn Minuten entschuldigen. Draußen warten die Patienten.“
Während man hinausgeht, kommen sieben Menschen herein drei verschleierte Frauen und vier schnauzbärtige Männer, die nervös mit Gebetsketten spielen und einigermaßen fassungslos den Raben beäugen. Vorher, im Wartezimmer, hatten sie erzählt, dass sie aus Gaziantep im Südosten des Landes mit dem Autobus über Nacht nach Istanbul gefahren sind und monatelang gespart haben für die Reise und die Audienz beim Sultan, die umgerechnet 150 Euro kostet. „Mein täglich Brot“, seufzt Dümen, bevor er die Tür hinter seiner Kundschaft schließt. „Ein Ehepaar hat Probleme, und die ganze Familie mischt sich ein. Die Eltern, die Schwester, zwei Brüder - sie verfolgen sie bis in meine Praxis. Hier herrscht eine unglaubliche Prüderie, gepaart mit null Intimität. Da kann ja nichts werden aus dem Sex.“
Man glaubt ihm aufs Wort. Eine Viertelstunde später huscht die Familie zurück ins Wartezimmer, und der Sultan, der es mit der Schweigepflicht nicht sehr genau nimmt, startet von Neuem durch: „Sie wundern sich, dass sie nach sieben Jahren Ehe noch kein Kind haben - aber sie haben noch nie miteinander geschlafen! Weil die Ehefrau unter Vaginismus leidet, wie hunderttausend andere Leidensgenossinnen in der Türkei. Das ist kein Wunder: Kleinen Mädchen drischt man förmlich ein, dass sie auf keinen Fall ihre Jungfräulichkeit verlieren dürfen, man verbietet ihnen das Radfahren und das Klettern und bringt ihnen sogar bei, Husten und Niesen zu unterdrücken. Ständig macht man ihnen panische Angst. Und dann werden aus Mädchen Frauen, die verheiratet werden und plötzlich Sex haben sollen, meistens mit komplett unbegabten Volltrotteln. Aber viele können das Ruder nicht einfach so rumreißen! So fließt in der Hochzeitsnacht kein Blut, die Hölle ist los, und die Frauen fühlen sich schuldig.“
KANN ER DAS PROBLEM BEHEBEN? „Selbstverständlich. Eine Stunde bei mir, und in neun Monaten werden sie mir aus Gaziantep einen Brief schreiben, dass sie mir zu Ehren ein Schaf geschlachtet haben, zur Geburt ihres ersten Kindes. Ich habe eine Methode, die werde ich ihnen später beibringen.“ Welche? „Geheimnis.“ Und guckt die Familie zu? „Nein, die schmeiße ich dann raus.“ Ist das Ganze erotisch? „Wo denken Sie hin! In der Türkei ist Sex nicht erotisch, sondern mechanisch.“
Dümen ringt die Hände. „Allah, Allah, was für ein Land! Die Frauen sind verklemmt, und die Männer fantasielose Tölpel, deren einzige Sorge ihre Penislänge ist. 90 Prozent meiner Leserbriefe handeln nur davon!“ Schuld an allem sei „Töre“, die Tradition, die ungeschriebenen Gesetze, die verbindlicher sind als die geschriebenen. „Sie hält uns gefangen, sie verbietet praktisch alles was Spaß macht, zum Beispiel Zungenküsse.“
Draußen vor der Tür strahlt die Sonne. In Cihangir, Hochburg der solventen Linksintellektuellen wird in jedem Straßencafé Händchen gehalten. In der Fußgängerzone der Istiklal Caddesi in Beyoglu schieben sich junge Frauen in „engen Jeans und ärmellosen T-Shirts durchs Gewühl begleitet von Männern, die ihr gegeltes Haar wie eine Waffe tragen, vorbei an Kiosken, voll mit Zeitschriften, die auf dem Titel Storys darüber ankündigen, „wie man den Gipfel der Lust im Bett erklimmt“ oder „am Strand erfolgreich flirtet“. Dazwischen drängen sich Teenies mit Kopftuch, das lange Haar darunter zu Hochfrisuren gesteckt, die Röcke und Blusen so eng, dass sich darunter Tanga und BH abzeichnen, hüftschwingend, kichernd, mit Jungs an ihrer Seite, die ihnen schon mal den Arm um die Schultern legen und etwas ins Ohr flüstern.
Die Säkularen umarmen sich in Ortaköy und Nisantasi auf der europäischen Seite der Stadt oder auf der Bagdad Caddesi und auf der Uferpromenade von Fenerbahce in Asien, die Fundis flirten in Eyüp oder Eminönü. Es wild heftig geschmust, aber kaum je geknutscht, denn Küssen gilt in der Türkei als sexueller Akt. Dennoch ist klar: There is sex in this City.
Besonders in heißen Sommernächten ist vom Erotik GAU, den Dümen geschildert hat, nichts zu spüren. In den Open Air Discos am Bosporus wird zu markerschütterndem Getöse getanzt bis in den Morgen, die Minis so lang, wie ein Tesafilm breit ist, und die Hemden aufgeknöpft bis zum Gürtel. Der ganze Stadtteil Beyoglu vibriert zu den Klängen von Techno, Rap und türkischem Pop, die aus Hunderten von Klubs und Bars dringen. In den dunkleren Gassen baggern echte, falsche und funkelnagelneue Frauen Freier an, und vor der allerfinstersten stehen verdruckste Männer Schlange: Es ist die ganz legale Bordellstraße von Istanbul, zugelassen nur für Kunden, deren Personalausweise am Eingang von einem unwirschen Polizisten kontrolliert werden.
„DER SCHEIN TRÜGT“, sagt indes die 36-jährige Sekretärin Zeynep *. „Wir sind hier nicht in Barcelona oder Marseille. Wir sind in einer stockkonservativen Stadt in einem stockkonservativen Land. Auch die säkularen Türken sind weit weniger tolerant, als sie wirken: Die meisten wollen, dass ihre Söhne eine Jungfrau heiraten und ihre Töchter unberührt in die Ehe gehen.“
Zeynep ist eine Almanci, ein Gastarbeiterkind aus Deutschland. Ihre Eltern stammen aus einem Dorf bei Ankara, sie selbst wuchs in Mannheim auf. Vor zehn Jahren kehrte sie zurück in das Land ihrer Geburt.
Ihre ursprüngliche Begeisterung ist längst verflogen. „Am Anfang hatte ich ein paar Affären mit Männern. Die wollten nur mit mir ins Bett, eine Beziehung ist nie daraus geworden. Ich glaube, es lag auch daran, dass mir Sex Spaß macht. Denn eine gute türkische Frau lässt das alles wie eine Scheintote über sich ergehen. Einer dieser Typen schrie mich bei jeder Bewegung an: Wo hat du das gelernt? Mit wie vielen Männern hast du schon geschlafen?“
Seither gelte sie als leichtes Mädchen. Und dass ich alleine lebe, hilft auch nicht: Hier müssen ledige Frauen bei ihren Eltern oder wenigstens bei einer Tante wohnen, sonst sind sie suspekt. Ich fürchte, dass mich hier nie einer heiraten wird“. Wäre das so schlimm? „Ohne Ehemann kann man in der Türkei als Frau nur leben, wenn man verdammt reich oder sehr elitär ist. Ich gehöre nicht zu diesen Kreisen“, sagt Zeynep.
DIE TÜRKEI IST EIN LAND zwischen Stringtanga und Scharia, zwischen „Cosmopolitan“ und Koran, zwischen mittelalterlicher Polygamie bei den Kurden im Osten und modernen Patchworkfamilien bei den Städtern im Westen. Hier legen viele Frauen selbst im Hamam ihre Kleidung nicht ab und zeigen sich ihren Kindern nie nackt, während im Fernsehen unentwegt kaum bekleidete Diseusen die Silikonbrüste herumschwenken. Hier beten die Fundis die transsexuelle Sängerin Bülent Ersoy an und würden ihre Söhne verstoßen, wenn die so wären wie sie. Hier wird die Liebe in jedem Lied besungen und ist doch Sünde. Hier ist die Familie heilig und für Frauen zugleich der gefährlichste Ort der Welt. Einige wenige können sich alles erlauben, und die übrigen müssen sich fügen. Manche haben 1001 Affären, die anderen haben keine Wahl.
Zum Beispiel die 22-jährige Gülcan * und ihr entfernter Vetter Yasar *, 24, die in zwei Monaten heiraten werden. Sie sprechen getrennt voneinander mit dem stern und wollen auf keinen Fall fotografiert werden. Beide sind in Istanbul zur Welt gekommen, beider Eltern stammen aus einem winzigen Dorf in der Nähe von Sivas, das ihre Kinder nie gesehen haben, „Wir haben das Dorf verlassen, aber das Dorf rennt hinter uns her“, sagt Yasar. „Nicht das Paar heiratet in der Türkei, sondern dessen Familien. Liebe ist da nicht im Spiel. Das ist was fürs Kino.“ Die Eltern arrangieren die Ehe und kümmern sich um die „Ceyiz“, die Mitgift. „Die Braut besorgt die Schlafzimmermöbel, die Küche und die Wäsche, der Bräutigam die Wohnung und den Rest.“
Yasar war einverstanden als seine Eltern vor vier Monaten um Gülcans Hand anhielten, obwohl der Schreiner seine Braut kaum kennt. „Ich habe sie nur ein paarmal auf Hochzeiten gesehen. Aber es wird schon gut gehen, inschallah. Jeder muss irgendwann eine Familie gründen, mit einem anständigen Mädchen. Das ist „Töre“, die Tradition“, sagt er so sachlich wie leidenschaftslos.
Gülcan, die als Hausangestellte arbeitet, hadert dagegen mit ihrem Schicksal. Im Gegensatz zu ihrem Bräutigam findet sie, dass Liebe nicht nur was fürs Kino ist, sondern auch was fürs Leben. „Vor zwei Jahren war ich richtig verknallt, in einen Jungen, der aus der Nähe von lskenderum stammt“, sagt sie und nestelt an dem schlammfarbenen Kopftuch, das ihre dunklen Haare bedeckt. Selbstverständlich war die Beziehung völlig platonisch, kein Kuss hat sie je besiegelt, sondern höchstens die allerflüchtigste Berührung.
„Wo denken Sie hin? Meine Eltern würden mir so was nie erlauben.“ Sie torpedierten sowieso die Verbindung. „Sie haben gesagt: Wir kennen seine Familie doch gar nicht! Und sie wollten sie auch nicht kennen lernen. Iskenderum, das ist für die wie der Mond.“
Seither haben vier Familien um Gülcans Hand angehalten. „Das geht so: Die Eltern kommen mit ihrem Sohn zur Braut nach Hause und sagen: ‚Wir sind hier, um eine gute Angelegenheit zu erledigen. Mit der Erlaubnis Allahs und dem Wort des Propheten wollen wir Ihre Tochter zu uns nehmen.’ Die muss Kaffee servieren und kann dann wieder gehen. Und danach wird sie gefragt: Willst du ihn nehmen?“
Dreimal hat Gülcan freundlich abgelehnt, doch beim vierten Mal hat sie eingewilligt. „Ich konnte nicht anders. Seit ich 18 bin, sagt meine Mutter mir jeden Tag: Pass auf, dass aus dir keine ‚evde kalmis’ wird, eine, die daheimgeblieben ist, ein spätes Mädchen.“
Jetzt bereitet sie sich ohne Enthusiasmus auf ein Leben an Yasars Seite und mit ihren Schwiegereltern vor. „Die sind wichtiger als der Ehemann. Man muss sie immer zuerst bedienen, man muss tun, was sie wollen.“ Was ihren zukünftigen Mann angeht, liest sie alles, was ihr so unter die Hände kommt, den Sex-Sultan Haydar Dümen in „Posta“ zum Beispiel. „Niemand hat mich je aufgeklärt, aber ich will wissen, was mich erwartet.“ Sie schließt kurz die Augen und sagt dann resigniert: „Vielleicht werde ich mich eines Tages an Yasar gewöhnen.“
HAT SIE NIE DARAN GEDACHT, einfach wegzulaufen? „Das würde die Trennung von der Familie bedeuten“, sagt Gülcan. „Aber sie ist das Einzige, worauf man sich in der Türkei verlassen kann. Wo sollte ich denn hin, falls mein Mann mich verlässt?“
In einem Land ohne Arbeitslosengeld ist die Familie Zufluchtsort in Zeiten wirtschaftlicher Not; sie fungiert häufig auch als Kreditanstalt und Altersversicherung. Das gilt insbesondere für den bitterarmen Südosten des Landes, wo außerdem kurdische Sitten und Gebrauche dafür gesorgt haben, dass mancherorts das 20. Jahrhundert noch nicht Einzug gehalten hat Hier sind die Frauen eine Ware, und die Ehe ist ein Kaufvertrag. Etwa bei der Familie Sanli in einem winzigen Dorf ohne fließend Wasser und Elektrizität in der Nahe von Mardin „Wir haben hier keine Fabriken, dafür aber eine Babyfabrik“, sagt stolz der Patriarch Emanet, der auf einem Kissenberg in seiner winzigen Hütte thront. Er hat drei Frauen, 30 Kinder, das älteste 40, das jüngste 2, und so viele Enkelkinder, dass er sie nicht zählen kann. „So zwischen 50 und 60, genau weiß ich das nicht.“ Als der heute 64-Jährige zum ersten Mal heiratete, war er 13, genau wie seine Frau und Kusine Sherife. Mit 32 verliebte er sich in Arabi. „Ihre Eltern wollten sie mir nicht geben, so habe ich sie mir einfach genommen. Anfangs war ihre Familie sehr böse, aber dann habe ich ihnen eine meiner Schwestern gegeben, und wir haben uns wieder vertragen.“
UND VOR ZEHN JAHREN HEIRATETE er noch Amini, die seither alle zwölf Monate ein Kind zur Welt gebracht hat. Nie hat der Mann ein Standesamt von innen gesehen, er hält das für „eine dumme Erfindung der Türken. Bei uns Kurden reicht es, wenn der Imam einen traut“. Keines seiner Kinder hat eine Schule besucht, außer seinen beiden jüngsten Söhnen. „Ihre Mutter wollte das“, brummt er missmutig. „Ich halte davon nichts, ich kann auch nicht lesen und schreiben. Und doch hat mich Allah zu einem guten Mann gemacht.“
Die Türken seien ferner an seiner Armut schuld und auch daran, dass er nicht noch mehr Frauen und noch mehr Kinder habe. Weil sie Emanet wegen seiner Sympathien für die separatistische kurdische Guerilla Organisation PKK mehrfach ins Gefängnis gesperrt haben, sei es dazu nicht gekommen, „obwohl es manchmal gar nicht so einfach ist. Ich mag alle meine Frauen, aber sie mögen sich nicht. Trotzdem hätte ich gerne noch zwei“.
Amini, die einzige anwesende der drei Gattinnen, die Fladenbrot für ihre Kinderschar bäckt, ruft dazwischen: „Das kannst du dir doch gar nicht leisten.“ - „Stimmt“, sagt Emanet. „Braute kosten im Moment 5000 Lira, so teuer waren sie noch nie.“ - „Er ist ein guter Mann, er schlägt mich nicht“, sagt Amini. „Aber unser Leben hier ist hart. Wir arbeiten die ganze zeit, und die Männer sitzen nur faul herum.“ Der Patriarch strahlt. „So soll es auch sein.“
Was würde er tun, wenn eine seiner Frauen ihn betrügen würde? Emanet, immer noch strahlend, fährt sich mit der Hand an die Gurgel.
Lichtjahre von der Welt der Sanlis entfernt sitzt der Schwulenaktivist Kürsat Kahramanoglu, genannt auch „der rosa Papst“, in seiner Tapas Bar in Istanbul und spricht über das zerrissene Land, in das der Ingenieur und Philosophiedozent nach 20 Jahren Lehrtätigkeit an der Universität von Manchester vor zwei Jahren zurückgekehrt ist. „Die Türken sind sich über nichts einig. Folgerichtig streiten sie sich auch über Sex, über Familie, über Moral. Derzeit tobt ein Krieg um die Seele dieses Landes; die Kemalisten und die Islamisten zerreißen einander, und dabei zerreißen sie die Türkei gleich mit. Doch zwei Dinge einen sie: ihre Verachtung für Frauen, die hier mit und ohne Kopftuch wenig zu sagen haben, und ihr Hass auf Schwule.“
HOMOSEXUALITÄT SEI IN DER TÜRKEI zwar nicht verboten, gelte aber gleichwohl als „widerliche Krankheit“. Als kürzlich der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk in einem belgischen Schulbuch als berühmter Homosexueller aufgelistet wurde, „sind die Kemalisten schier durchgedreht, während die Islamisten sich wahrscheinlich gefreut haben.“ Beide Lager betrachten es als infame Beleidigung, jemanden als schwul zu bezeichnen“.
Die Türkei sei wie fast alle islamischen Länder, nämlich „unglaublich verlogen! Warum gibt es in Istanbul so viele Transvestiten und Transsexuelle, die als Prostituierte arbeiten? Weil ihre Kunden schwule Männer sind, die es sich selbst nicht eingestehen wollen. Darum schlafen sie mit Fast-Frauen und fühlen sich nicht schuldig. Außerdem gilt: Nur der, der penetriert wird, ist homosexuell.“
Diese Meinung teilen auch die türkischen Streitkräfte. Homosexualität ist einer der ganz wenigen Gründe, die einen vorm Militärdienst bewahren, „doch bis vor wenigen Jahren musste man sie beweisen“, so Kahramanoglu. „Und zwar mit Fotos und Videos. So hat die Armee das größte Schwulen-Porno-Archiv der Türkei. Allerdings wurde immer darauf geachtet, wer der passive Partner war. Denn der, der fickt, ist hierzulande immer ein echter Mann. Und zwar egal, wen er fickt, ob Frau, Mann oder Tier. Und im Grunde betrachten unsere prächtigen türkischen Machos, von denen wir mehr als genug haben, jeden, den sie penetrieren, als Tier. Sex, das ist hier die Beziehung zwischen einen der benutzt, und einem anderen, der sich benutzen lassen muss.“
Wie hatte es Haydar Dümen noch so schaurig schön formuliert? „Sex ist anderswo auf der Welt die Signatur unter einem Gemälde, das zwei Menschen malen, mit den Farben der Liebe, der Erotik, des Vertrauens, der Ästhetik, der Emotion. Bei uns ist die Leinwand leer. Alles fehlt, bis auf die Signatur.“
* Namen von der Redaktion geändert."

(Bildquelle: Wikimedia Commons)

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