So arm ist Deutschland
Wo fängt Armut an, wie sieht sie aus, wo führt sie hin? Das fragt man oft um Weihnachten, wenn Milliarden gegen Glitzerglanz eingetauscht werden und die Spendengalas boomen. Das fragt man sich besonders an einem Tag wie heute, an dem der Armutsindex für Deutschland vorgestellt wird.
Wohin die Armut führt? Ganz ans Ende der Leipziger Eisenbahnstraße zum Beispiel. Der Straße, bei der jungen Frauen gern geraten wird, sie sollten da bloß nicht im Dunkeln allein entlang fahren. Drogen, Kriminalität, diese Auswüchse der Armut machen vielen Leuten große Angst. Weit in den Osten der Stadt führt diese Eisenbahnstraße. Das letzte Haus ist ein verranztes Schmuckstück, über eine Wand spannt sich ein Plakat aus Lkw-Plane. Sozialwarenhaus steht da in riesigen lila Lettern.
Wo Armut anfängt, ist nicht so leicht zu verorten. Laut Statistischem Bundesamt sind in Leipzig 27 Prozent der Einwohner von ihr gefährdet, denn sie müssen mit 60 Prozent des mittleren deutschen Einkommens auskommen. So ist die Armutsgrenze in Europa definiert. Wer nur 40 Prozent hat, ist dann wirklich arm. In Deutschland kratzen 14 Prozent an der Armutsgrenze, geht aus dem heute vorgestellten Armutsbericht 2011 des Paritätischen Gesamtverbandes hervor. Die Armut ist also stabil in Deutschland, die Quote hat sich seit Jahren festgefressen.
Einkaufen darf hier im Sozialwarenhaus genau genommen nur, wer «wirtschaftlich bedürftig» im Sinne des § 53 Abgabenordnung ist. Doch das sagt Klaus Hoffmann von der Leipziger Resozialisierungshilfe lieber nicht so laut, denn darunter fällt jeder, der nicht mehr hat als das Vierfache der Sozialhilfe – und viermal Hartz IV, das sind stattliche 1400 Euro netto. Deshalb spricht der Pressesprecher des Vereins lieber von Geringverdienern, Arbeitslosen, Sozialhilfe- oder Rentenempfängern. Auch Studenten dürfen kommen.
«Und, wie findest du’s hier?», fragt ein junger Typ, der sich auf eine Krücke stützt. In beiden Ohren trägt er Ohrstöpsel, obwohl es nicht laut ist hier. «Super, oder? Guck mal, dieser Tisch mit vier Stühlen für 129 Euro, das würdest du sonst nirgendwo kriegen.» Er ist da, um nach Elektrogeräten zu gucken, aber er habe auch schon einiges gespendet, sagt er.
Wirklich günstiger als im An- & Verkauf?
Die Couchgarnituren, Küchenmöbel, Mikrowellen, die Berufsbekleidung, falschen Wimpern und sogar ein Brautkleid Größe 36 für 129 Euro, alles hier im Warenhaus sind Spenden. Und die fließen, das Prinzip Sozialkaufhaus funktioniert. Vier Wochen im Voraus hat Herr Elbes, der sich ums Abholen kümmert, seine Fuhren ausgebucht. Gerade betrachtet er mit einem potenziellen Spender Möbel auf dessen iPhone. Und er nimmt nicht alles. Normalerweise fährt immer erst jemand los und schaut sich die Ware an. DDR-Schrankwände zum Beispiel wolle niemand mehr, sagt Klaus Hoffmann. Und Ladenhüter gibt es hier nicht. Was nicht ankommt, fliegt wieder raus.
Wie die Armut aussieht? Früher war die schmucklose Halle mal ein Discount-Supermarkt, ganz früher – also zu DDR-Zeiten – eine Autowerkstatt. Jetzt ist ein breiter orangefarbener Streifen das einzige gestalterische Merkmal im fahlen Licht der Neonröhren. Was in den Regalen steht, das sieht tiptop aus, auf den Elektrogeräten klebt ein «geprüft»-Siegel, die Küchenmöbel sind praktisch neu und sogar drei vollständige Schlafzimmer haben die Mitarbeiter aufgebaut. Es solle nicht aussehen wie ein An- & Verkauf, erklärt Hoffmann. Die Preise vor allem sollen möglichst darunter bleiben. «Wenn jemand irgendwo etwas günstiger sieht, gehen wir runter.»
Davon ist der Kunde in der weißen Skijacke nicht überzeugt. Er sei ja nur als Begleiter hier, murmelt er und blickt auf den Mann neben sich, aber er finde viele Artikel zu teuer. «Das Schlafzimmer da für 565 Euro, das ist für einen Hartz-IV-Empfänger doch nicht erschwinglich», meint er. Eigentlich sucht er ein Bild. Ein Bild mit Engeln drauf. Klaus Hoffmanns Kollegen haben zwar extra einen kleinen Raum mit Weihnachtsdeko angelegt, aber er wird hier trotzdem nicht fündig.
Kunden sind Punks und feine Damen
Martina B. hat nichts dagegen, ein wenig zu plaudern. Sie will auch einen Engel kaufen, eine Figur für ihr Enkelkind, die sie letztens hier gesehen hat. Im Sozialkaufhaus schaut sie gelegentlich vorbei, weil es auf ihrem Weg in die Stadt liegt. Sie ist erwerbsunfähig, bekommt eine Rente, «aber das Geld erschlägt einen nicht», sagt sie. Eigentlich hofft sie, irgendwann mal eine Puppenstube hier zu finden oder einen Kaufmannsladen. In der Kinderecke pirscht gerade ein kleiner Junge an den Regalen vorbei und will sich etwas aussuchen. Seine Mama trägt eine Punk-Jacke mit «Total Chaos»-Aufnäher, schiebt einen Kinderwagen mit ihrem greinenden zweiten Kind und hat die richtige Erklärung parat: «Jetzt nichts aussuchen, bald ist Weihnachten. Und der Weihnachtsmann sieht das und bringt dir dann nichts.»
Sie hat kein klares Outfit, die Armut. Ganz feine Züge hat Galina Hilgenberg. Die alte Dame ist sehr gepflegt gekleidet, dezent geschminkt und spricht mit einem sanften russischen Akzent. Aus Kasachstan sei sie vor sieben Jahren hergekommen, sie sucht Christbaumschmuck und zeigt ungefragt ihren Mitgliedsausweis für das Sozialkaufhaus vor. Auch der ältere Herr mit der Goldrandbrille könnte seinen bodenlangen dunklen Mantel ebenso gut an der Garderobe für die Vorstandssitzung abgeben. Er ist erst zum zweiten Mal hier, sagt er leise, und interessiert sich für einen Sessel, 45 Euro.
Eine gewisse Scheu stellt Frau Lehmann anfangs bei vielen Kunden fest. Sie steht an der Kasse und gehört zu den rund 15 Mitarbeitern, die hier ein regelmäßiges Auskommen haben. «Aber dann merken sie, dass es hier ganz ordentlich aussieht und überwinden das.» Seit März 2010 gibt es das Kaufhaus, und der Kundenstamm wächst.
Das Sofa vor der Nase weggeschnappt
Zwei Frauen mit Partnerlook-Wollmützen haben allerdings gerade nicht so eine gute Zeit hier. Sie hatten sich für das Rundsofa mit dem hellen Muster entschieden, da erfahren sie: Es wurde vor einer halben Stunde verkauft. Die Ältere der beiden ist genervt von ihrer Schwiegertochter, «die beiden haben seit Monaten nur eine Matraze auf dem Boden», flüstert sie und rollt mit den Augen.
Für den Freund mit Krücke und Ohrstöpseln sind die Sofas hier alle zu niedrig. Er hat Rückenprobleme und kommt schlecht hoch. Vor allem aber hat er große Lust zu plaudern. Er sei Psychiater, behauptet er, und Stühle sollten immer Armlehnen haben. Wer Zeit mitbringt ins Sozialwarenhaus, der wird hier reich an Geschichten. «Ich hab ihn, er war noch da», sagt Martina B. im Vorbeigehen. Der Engel für das Enkelkind ist gesichert.
Draußen dämmert es inzwischen, das Wunschsofa der beiden bemützten Damen wird verladen. Darauf wird nun jemand Weihnachten feiern. Jemand, der arm ist? Darauf kommt es doch gar nicht an.
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Gesellschaft Nachrichten -
Sozialkaufhaus – So arm ist Deutschland
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