Chris Evans und Jamie Bell führen die Revolution im Zug an. Joon-ho Bongs “Snowpiercer”
Die Welt lag schon oft verloren im ewigen Eis, noch nie war es so schön dystopisch dargestellt wie in Joon-ho Bongs Sci-Fi Film Snowpiercer. Eigentlich sollte eine in die Luft geblasene Chemikalie dafür sorgen, die globale Erwärmung zu stoppen – hat sie dann irgendwie auch: die ganze Welt wurde in eine Eiszeit versetzt, bei deren Temperaturen kein Mensch an der freien Luft überleben kann. Globale Erwärmung ist jetzt sicherlich kein Problem mehr, dafür tun sich ganz andere Untiefen des menschlichen Überlebenswillens auf. Man rettet sich in den Snowpiercer, diesen gigantischen Zug, so massiv erbaut, dass er sich durch vereiste Felsen schneidet, wie sich Noahs Arche einen Weg durch die Fluten der Meere gesucht hat. Der Snowpiercer mag zwar äußerlich ein stabiles Gefährt darstellen, im Inneren hat Regisseur Joon-ho Bong jedoch die klassische Unterteilung der Gesellschaftsschichten vorgenommen, wie sie vom Stummfilm Metropolis bis zu Soylent Green oder modernen Vertretern wie Elysium gezeigt werden. Das Aufbegehren der ärmsten Zuginsassen, die sich von glibberigen Proteinblöcken ernähren und im Schmutz und Dreck leben ist Formsache. Sie kämpfen sich von ihrem zugedachten Platz am Ende des Snowpiercers nach vorn, wo der Erbauer des Zugs sitzt, die Maschinen bedient, acht darauf gibt, dass seine Welt im Zug nicht entgleist.
Snowpiercer ist eine dieser Dystopien, dieser Zukunftsvisionen, die sich in allen Belangen zusammenfügt. Musik, Bild, Story arbeiten Hand in Hand um ein grausam-interessantes Leid zu erzählen. Die Kamera von Kyung-pyo Hong fängt alles ein: den Abschaum am Ende des Zugs, wo alles an verdreckte Gassen oder Kanalisationssysteme erinnert. Hier ist es dunkel, bedrückend, das Leid, das die Menschen ertragen müssen, ist förmlich spürbar. Nicht zuletzt unterstrichen durch die ebenso beklemmenden Klänge von Marco Beltrami. Seicht verspielt klingen seine Kompositionen wenn sich die Gruppe der Aufständler, darunter Chris Evans, Jamie Bell, John Hurt und Octavia Spencer, in der Mitte des Snowpiercers befinden, wo sie mal vergnügt strickende Omis im Schaukelstuhl sitzend finden, um sie herum eine florierende Pflanzenwelt, deren wonnige Düfte sie genießen, oder wenn sie in einem eigens für den Zug geschaffenen Aquarium eine Portion Sushi zu sich nehmen dürfen. Die bedrückende Stimmung bleibt zwar spürbar, da hier noch immer alle eingepfercht in einen gigantischen Zug festsitzen, dennoch schafft es der Film hier, dem Zug eine obskure Verschrobenheit mitzugeben, die wirr und verrückt erscheint. Und wie das mit solch irren Situationen ist, traut man ihnen auch nicht so recht über den Weg.
Chris Evans mit Ah-sung Ko
Die verrückteste aller Figuren darf nun wieder Tilda Swinton verkörpern, die sich zuletzt erst noch eine dicke Maske für Wes Andersons Grand Budapest Hotel verpassen ließ, als alte Dame dem jungen Ralph Fiennes die Liebhaberin gibt. Im Snowpiercer ist sie eine Ministerin, die über reichlich Schlägertrupps befehligt, meistens aber auf ihr eigenes Überleben trainiert ist. Sie verbreitet die Kunde des Zusammenlebens im Zug, alles soll an seinem Platz bleiben, der Abschaum am Ende, der Hochglanz an der Spitze, wo auch der Gott der Maschine Wilford residiert. Wer unter der Ministerin aus der Reihe tanzt – sie demonstriert es schön mit einem Schuh, der an den Fuß gehört, nicht etwa auf den Kopf – muss mit harten Sanktionen rechnen: dann wird schlicht der Arm für etwa sieben Minuten aus dem Zug gehalten, bevor ein Hammer das schockgefrorene Körperteil zerspringen lässt.
Joon-ho Bong arbeitet in Snowpiercer die Graphic Novel Le Transperceneige des Franzosen Jean-Marc Rochette auf. Es heißt er habe die Vorlage bereits 2004 in seinem angestammten Comicladen in Seoul gefunden und noch vor dem Regal die gesamten drei Bände verschlungen. Die Faszination an der Geschichte, in der Menschen innerhalb eines Zugs um ihr Überleben kämpfen und jede Kabine eine andere soziale Schicht beheimatet, hat ihm so sehr gefallen, dass er seinen befreundeten Filmemacher Park Chan-wook (Oldboy, Stoker) von der Graphic Novel-Verfilmung überzeugte und dieser sich mit seiner Produktionsfirma Moho Films die Rechte an dem Stoff sicherte.
Joon-ho Bong, der in seiner Heimat Südkorea bereits durch den Monsterfilm The Host bekannt und beliebt ist, inszenierte mit Snowpiercer jetzt seine erste englischsprachige Regiearbeit. Dennoch hat er mehrere Darsteller aus seinem Umfeld mitgenommen, darunter den in The Host zu sehenden Kang-ho Song sowie die 22 Jahre junge Ah-sung Ko, ein kleines Highlight im Snowpiercer. Das Gespann, hier als Vater und Tochter unterwegs, sammelt fleißig eine Art von Droge, an der sie immer wieder schnüffeln. Sie helfen den Aufständlern lediglich beim Türe öffnen, um sich mit diesen Drogen in grüner Klumpenform bezahlen zu lassen. Über die nötigen Kenntnisse verfügen sie, da Kang-ho Songs Namgoong Minsu der Techniker hinter den elektronischen Schlössern des Snowpiercers ist, der auch seiner Tochter offensichtlich ein ordentliches Maß an Talent mitgegeben hat. Sie scheint darüber hinaus eine Art Gefühl oder hellseherische Fähigkeit darüber zu haben, was sich hinter jeder nächsten verschlossenen Tür verbirgt.
John Hurt
Aber auch die übrige Besetzungsliste ist spannend anzusehen: Octavia Spencer, die sich schon in The Help an der schwarzen Bürgerrechtsbewegung beteiligt hat; Jamie Bell der sich als tanzbegeisterter Billy Elliot gegen die Vorurteile seiner Familie stellen musste; Chris Evans, der für Marvel als Captain America gegen Nazi-Unterdrücker ins Felde zog. Evans ist die schauspielerisch größte Überraschung in Snowpiercer. So blass er manches Mal in Erscheinung tritt, selbst über seine Rolle als Captain America wird oftmals gesagt, er sei der passivste aller Helden, vielleicht gar der langweiligste, so überdurchschnittlich stark agiert er hier. Bärtig verdreckt nimmt er die Anführerrolle des Aufstands nur äußerst schwer an, klammert sich an seinen Mentor, wird geplagt von Erinnerungen aus der Anfangszeit des Zugs, als die Menschen gerade erst das Gefährt betreten hatten. Evans verleiht diesem Mann eine traurige Vielschichtigkeit, ohne sich dabei zu übernehmen, vielmehr überzeugend, mit einer gewissen Tragik ausgestattet. Sein Mentor wird von John Hurt gespielt, der nicht minder vertraut mich solchen gesellschaftskritischen Zukunftsgeschichten ist: Ob als Winston Smith im Kontrollstaat von 1984, als von Todessern gepeinigter Mr. Ollivander im Harry Potter Franchise oder in der britischen Tyrannei von V wie Vendetta – kein anderer Schauspieler kann die dystopische Zweiklassengesellschaft so sehr verkörpern wie ein John Hurt.
Snowpiercer hinterlässt ein beeindruckendes Gefühl. Er spielt sich zum Sci-Fi Klassiker hoch und könnte in nur wenigen Jahren in einem Atemzug mit dem Blade Runner oder Alien genannt werden. Joon-ho Bong macht sich zum südkoreanischen Ridley Scott, als Ridley Scott noch Sci-Fi beherrschte. Vor allem ganz ohne Schnickschnack: kein 3D, kein Bombast, hier liegt der Fokus auf der Erzählung, auf den Menschen. Das dauert immerhin über zwei Stunden, von denen man allerdings überhaupt nicht zu spüren bekommt.
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Produktionsland, Jahr: ROK/ USA/ F, 2013
Länge: ca. 126 Minuten
Regie: Joon-ho Bong
Darsteller: Chris Evans, Jamie Bell, John Hurt, Tilda Swinton, Octavia Spencer, Kang-ho Song, Ah-sung Ko, Alison Pill, Luke Pasqualino, Ed Harris
Kinostart: 3. April 2014
Im Netz: snowpiercer.de
Bilder © MFA/Ascot Elite/24 Bilder