Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung

Sulden - Vor einigen Jahren, also ungefähr mit 19, hatte ich plötzlich das Verlangen, wieder in die Berge zu fahren - so wie früher als Kind. Ich fragte zwei Freunde, die noch nie 1000 Höhenmeter an einem Tag irgendwo hinaufgestiegen waren, und sie fanden die Idee sofort ziemlich stark. Seit diesem Sommer vor einigen Jahren also fuhren wir jedes Jahr in die Berge, jedes Mal in leicht wechselnder Besetzung.

Eigentlich ist ein Urlaub in den Bergen, so wie wir ihn angingen, eine ausgesprochen einfache Unternehmung: Man läuft den ganzen Tag von einer Hütte zur nächsten, rastet und trinkt zwischendurch, abends geht man um 21 Uhr schlafen, und morgens ist man um 6 Uhr wieder auf den Beinen. Auf den Pfaden und Steigen im Hochgebirge lenkt nichts den Geist ab, das Ganze hat etwas Meditatives, was meiner Ansicht nach wenig mit dem neumodischen Meditieren der Großstädter in ihren stilsicher eingerichteten Altbauwohnungen zu tun hat.

Ich habe die Abende auf den Berghütten immer als etwas unglaublich Erfüllendes erlebt. Wir sind den ganzen Tag marschiert, oft fegte uns stundenlang Regen ins Gesicht. Aber abends saßen wir in einem vom offenen Feuer gewärmten Gastraum, aßen Schnitzel, tranken Radler, und der Kopf glühte im warmen Dämmerlicht der Stube. Man fühlte sich auf eine höchst erholsame Art vollkommen erschöpft. Dann kam der Sommer in den Ortler Alpen.

Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung
Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung
Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung

Auch in diesem Jahr in Südtirol saßen wir nach einem langen Wandertag abends auf der Hütte an einem rustikalen Holztisch in der Runde und bestellten Essen und Radler und manchmal auch einen Obstler. Doch etwas war anders. Aufgrund eines besonderen Angebots der Telekom war es möglich, in einem EU-Land seiner Wahl kostenlos im Internet zu surfen.

Wir saßen also beisammen, und der eine schrieb mit seiner Freundin bei Whatsapp, der andere verfolgte den Bundesliga-Liveticker, und der dritte überflog alle fünf Minuten die Facebook-Timeline. Die Smartphones, die meist auf dem Tisch lagen, wirkten wie Gravitationspunkte, denen sich die Hände immer wieder näherten. Sie zogen die Aufmerksamkeit der Anwesenden unterschwellig auf sich wie eine Droge, von der man nicht die Finger lassen kann.

Aus heutiger Sicht scheint es mir, als hätten wir an diesen Abenden auf den Hütten nicht wirklich miteinander gesprochen im Sinne von: etwas ausgetauscht. Man sagt etwas, der anderen nimmt es auf, denkt nach, kommt zu einem Gedanken und gibt diesen zurück - und daraus entsteht diese dichte, bedeutende Stimmung, die in dem ganz bestimmten Moment etwas zwischen Menschen verändert. Unsere Abende aber blieben statisch.

Einmal spielten wir Mensch ärgere dich nicht. In dieser Stunde, in der wir unsere volle Aufmerksamkeit dem unvorhersehbaren Reiz des Würfelspiels widmeten, verfielen wir in Begeisterung. Die Temperatur am Tisch stieg. Doch schon nach kurzer Zeit kehrten wir zurück zu unseren kurzsilbigen Gesprächen, und die Aufmerksamkeit ging weg vom Tisch in einen Raum, der woanders lag als in der heimeligen Schankstube der Hütte.

Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung
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Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung
Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung

Mit einem gewissen Bedauern blickte ich, der noch eine Woche in den Bergen blieb, auf die vergangene Woche in unserer alten Wandergruppe zurück. Irgendetwas hatte gefehlt, ich spürte eine dumpfe Ernüchterung und gleichzeitig eine anhaltende Sehnsucht nach Momenten, die nicht eingetreten waren und deren Chance auf baldige Wiederholung in unbestimmbarer Ferne lag.

Als ich mich am Ende meiner Reise von Sulden auf den Heimweg machte, die Nachmittagssonne satt ins Tal schien und ich grundlos bester Stimmung war (noch am Morgen hatte ich auf dem Gipfel des Ortler gestanden), fiel mir ein Text in die Hände, der die Gedanken ausformulierte, die ich nur vage im Kopf hatte.

Smartphone auf Reisen: Das Ende der Erinnerung

Christoph Scheuermann schrieb im SPIEGEL folgende Sätze:

"Allmählich begann sich etwas zwischen mir und meinen Freunden zu verschieben. Wir wurden ungeduldiger, unkonzentrierter miteinander, wenn wir uns sahen, vielleicht in der Befürchtung, etwas zu verpassen, was parallel im Internet passiert. Wir stellten einander weniger Fragen, denn unsere Leben synchronisierten sich ja online. Noch ein Effizienzgewinn. Ich frage mich, was wir mit der gesparten Zeit gemacht haben. Unsere Sprache wurde kurzatmiger, wir rutschten in Superlative ab - irre, krass, Wahnsinn, geil. Die Zwischentöne aber, die Selbstironie, die Zweifel, diese schöne, alberne Melancholie nach drei, vier Stunden Plaudern, all das, auf dem Vertrauen wächst und später vielleicht Freundschaft, wurde seltener."

Ich glaube nicht, dass sich der Wert unserer Freundschaft durch die Reise negativ verändert hat. Freundschaft heißt, dass man, auch wenn man sich ein halbes Jahr nicht gesehen hat, so offen und unverstellt miteinander reden kann, als sei kein Tag vergangen. Ohne auf die eigene Rolle zu achten, auf das Bild, das man sich über die Jahre von sich selbst gemacht hat. Unsere Reise in die Berge war gemessen an diesem Ideal mit Sicherheit kein Ausfall nach unten - aber was, wenn es immer so bliebe?

Heute zweifle ich manchmal, ob die Leute meine Bedenken zu Smartphones überhaupt nachvollziehen können. Und es wurde schon so viel über die Auswirkungen des Internets gesagt, dass man es nicht mehr hören kann (und dazu wird eine ganze Menge Schwachsinn gesagt, was es nicht gerade leichter macht). Aber mittlerweile glaube ich, dass uns etwas abhanden kommt: die volle Präsenz in der physischen Gegenwart, eine urmenschliche Fähigkeit und Notwendigkeit auf dem Weg zu einer erfüllten Existenz.

Die immer nur kurzfristige, geteilte und flüchtige Aufmerksamkeit der mobilen Internetnutzung zerstört die Fähigkeit, einen Moment im Leben voll und ganz wahrzunehmen. Sie zerstört damit auch die Fähigkeit, überhaupt Erinnerungen zu produzieren und, ganz allgemein, bewusst zu leben. Die Vergangenheit wird so zu einem vagen Dunst. Man erkennt im Rückblick nicht mehr klar, was man überhaupt erlebt hat.

Erstaunlicherweise glauben die Menschen, dass sie mit ihrem Smartphone ganz viele Erinnerungen einfangen und teilen - das Gegenteil ist der Fall.


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