Unendlich scheint es her, da nahm man sie als Helden, als Giganten der Landstraße wahr. Damals glichen die Velozipedisten, so ihr etwas altertümlich klingender Name, den heutigen Radsportlern wenig. Nicht nur optisch: denn sie waren tatsächlich Heroen, die Ersatzteile mit sich, nicht im Begleitfahrzeugen - die es gar nicht gab - mitführten, Fahrradschläuche wie eine Schärpe um sich gewickelt hatten, anfallende Reparaturen während des Rennens selbst leisten mussten - die überdies lange noch ganz ohne Gangschaltung auskommen, sich dessenungeachtet trotzdem ungepflasterte, nicht asphaltierte Berghänge hinaufquälen mussten. "... unnötige Helden, Helden dennoch", schrieb der französische Sportreporter André Reuze 1928 über diese heroische Epoche des Radsports. "... héros inutiles, héros quand-même"...
Giganten der Landstraße nannte er sein fast schon epochales Meisterwerk. Trotz allem, Giganten sind die heutigen Radsportler nicht weniger - am Ende einer zwei- oder dreiwöchigen Rundfahrt den Zielort zu passieren, gleichgültig ob auf dem Treppchen oder als Wasserträger, der in den Spezialkategorien unter "ferner fuhren" zu finden ist: eine gigantische körperliche Leistung, ein gigantischer Wille ist heute immer noch notwendig, um die Schmerzen, den Gegenwind und natürlich die Einsamkeit des Radrennfahrers zu ertragen. Die Velozipedisten der Neuzeit sind nicht jene der heroischen Epoche - sie haben sich verändert, sie schweißen nicht, wie es die mittlerweile schon berüchtigte Legende des vieux galois Eugène Christophe erzählt, jeden Gabelbruch selbst zusammen. Das sicher nicht! Aber das saisonale Pensum und der somit einhergehende Raubbau am eigenen Körper sind dennoch fast schon heldenhaft.
Giganten wären auch die heutigen Fahrer - andere als damals sicherlich, nicht aber verweichlichter. Der verklärte Blick zurück ist auch im Sport oft milchig. Früher war nicht alles besser: es war alles anders! So wie heute alles anders ist, wie es morgen sein wird - heute ist die gute alte Zeit von morgen, hätte Karl Valentin in getragener Ernsthaftigkeit kalauert. Sie wären Giganten - sind es aber nicht, dürfen es nicht sein. Die Giganten der Landstraße sind zu Sklaven der Landstraße geworden. Sklaven, die man ohnedies seit Jahren wie Kriminelle behandelte: dem Antidopingwahn sei dank! Es ist ja ehrenhaft, sich zum Anwalt sauberen Sports zu machen. Aber Radsportler nackt aus ihren Zimmern zu treiben, wie es schon mehrfach geschah; sie unter Generalverdacht zu stellen, wie es Sportverbände und Medien ständig tun: das führt zu weit. Selbst das in dubio pro reo ist außer Kraft gesetzt - im Zweifel ist man nicht freigesprochen, man ist Dopingsünder; einer, dem man ächtet, weil er nicht mal die Courage besitzt, sein schlimmes Verbrechen zu gestehen. Im Jahr 1998, damals als Marco Pantani einen Hungerast Ullrichs gnadenlos ausnutzte, sich in die Palmarés der grande boucle, der Tour de France fuhr, machte sich das halbe Fahrerfeld auf den Heimweg, nachdem die Dopingfahnder mit den Fahrern wie mit Kriminellen umgesprungen waren. Entweihte Giganten, Sklaven der öffentlichen Moral, die nun auch um ihren wichtigen Erholungsschlaf gebracht werden können, wenn es die Dopingkontrolleure so wünschen.
Betrüger, alles Betrüger!, wissen auch die Zuschauer. Alle dopen schließlich. Das kann ja durchaus stimmen, es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich schier alle Fahrer leistungsfördernde Mittelchen eintrichtern. Dann tritt die Öffentlichkeit moralisch auf, schimpft auf den Radsport generell und seine haltlosen Sitten im Einzelnen, auf diesen unmöglich betrügerischen Schwindelsport als Auswuchs sportlicher Maßlosigkeit. Gleichzeitig aber giert dieselbe Öffentlichkeit nach Sensationen, nach Rekorden, nach Siegen und magischen Sportmomenten. Man will Höchstleistungen sehen, der zweite Platz ist der erste Platz im Feld der Verlierer. Jan Ullrich weiß das, er ist nach Raymond Poulidor der Rekordhalter für den zweiten Platz bei der Tour de France - "unser Jan" war er im Erfolg, Ullrich rief man ihn nur, wenn man von seiner Leistung enttäuscht war; enttäuscht war, obwohl er jahrelang erfolgreich in der Weltspitze mitfuhr, ohne nochmals nach 1997 die grande boucle zu gewinnen.
Seinen zweiten Platz 1996 bejubelte man noch wie einen Sieg; damals war Ullrich eine Sensation, ein Hoffnungsträger, der die Zukunft des deutschen Radsports dominieren sollte; ferner war er der Bezwinger des großen Miguel Indurain, fuhr ihn beim Einzelzeitfahren in Grund und Boden - außerdem hatte sich seit Kurt Stöpel 1932 kein Deutscher mehr den zweiten Platz der Gesamtwertung gesichert. Und dann geschah das, was kühnste Experten bereits erahnt, nicht aber so früh erwartet hatten: Ullrich gewann im Jahr darauf die Tour de France. 1997 war das! Alle zweiten Plätze danach, 1998, 2000, 2001 und 2003 waren eine herbe Enttäuschung für die deutsche Öffentlichkeit. Vom dritten Platz 2005 oder vom vierten Platz 2004, auch umwerfende Leistungen bei einem solchen Rennen, ganz zu schweigen - die waren für die deutschen Medien nicht nur Ausdruck für Ullrichs fehlende Form, sondern für seinen angeblich schlechten und lotterhaften Lebenswandel.
Der Erfolgsdruck macht mürbe und treibt sicherlich nicht wenige Sportler in die Dopingküchen dieser Welt. Fragte sich die deutsche Presse nur einmal, weshalb Ullrich gedopt haben könnte? Dass er gesündigt hat, das steht für die Medien jedoch fest, auch wenn kein Gericht darüber befand. Könnte man bei dieser selbstgerechten Gewissheit nicht wenigstens verlangen, dass nach dem Warum gefragt wird? Nein, kann man nicht! Der Sklave der Landstraße darf pedalierend entzücken, darf ein pédaleur du charme sein - er soll begeistern, er soll Freude bereiten, er soll Erfolge einfahren. Und er soll sich gefälligst nachts nackt aus dem Bett treiben lassen, schlaftrunken in Becherchen schiffen und Fragen beantworten: der saubere Sport hat es verdient, da muß der Mensch, dessen einziges Verbrechen darin bestünde, sich selbst körperlich zu ruinieren, zurückstehen. Für einen sauberen Sport darf der Sportler unsauber behandelt werden - so jedenfalls die allgemeine Sichtweise. Der Zweck heiligt die Mittel!
Armselige Giganten sind das, die da wie Vieh aus den Betten gescheucht werden. Dass mit Mitteln gepuscht wird, ist nichts Neumodisches. Schon der fünfmalige Toursieger Anquetil spöttelte in den Fünfzigerjahren, dass man mit Wasser keinen Klassiker wie Bordeaux - Paris, immerhin über 600 Kilometer, die an einem Tag zu fahren sind, nicht runterreißen könne - geschweige denn gewinnen. Tom Simpson fiel dann 1967, beim Aufstieg auf den Mont Ventoux, tot vom Rad - er war voller Aufputschmittel, die er mit Alkohol hinabgespült hat. Doping ist also fürwahr keine Neuheit; aber mit dieser selbstgerechten Penetranz wurde es noch nie verfolgt.
Radsportler neigen, so wirkt es jedenfalls oft, zur Melancholie; sie sind keine Platzhirschen und drängen sich auch nach Karriereende wenig in die Öffentlichkeit - einen Matthäus oder Klinsmann, einen Becker oder Stich, Schumachers oder Maskes findet man im nachkarrieristischen peloton kaum. Der Radsport ist ein einsamer Sport, wenngleich er als Mannschaftssport betrieben wird - die Einsamkeit auf dem Sattel, der den Hintern schmerzen läßt, zusammengedrückte Hoden, die gesamte verkrampfte Körperhaltung überhaupt: fürwahr héros inutiles! Die Depression ist ein alter Bekannter des Radsportlers, wenngleich man, wie im Falle Marco Pantanis, der tot in einem Hotelzimmer gefunden wurde, oder José María Jiménez', der in einer Psychatrie starb, man stets betonte, dass deren schwere psychosomatischen Probleme auf den exzessiven Dopingmissbrauch zurückzuführen sind, so muß doch gefragt werden, weshalb Radsportler stets aufs Neue den Freitod suchen: Hugo Koblet, Toursieger von 1951 beendete sein Leben ebenso von eigener Hand, wie sein Nachfolger von 1973, Luis Ocaña; Ende der Neunzigerjahre machte Thierry Claveyrolat seinem Leben ein Ende, zuletzt dann Dimitri De Fauw - die jeweiligen Gründe sind mannigfaltig, aber zu erkennen ist schon, dass der Radsport sensible Charaktere birgt, dass dieser Sport an sich melancholisch stimmen kann. Wenn man da so mutterseelenallein pedaliert, in Tälern, auf Bergen, wenn man sich als Einzelkämpfer durch gigantische und pittoreske Landschaften strampelt, dann hat das etwas Erhabenes, etwas Unvergleichliches - aber man wird auch auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen, der Kampf gegen die Strecke ist manchmal ein wirklich existenzielles Ringen. Wie verschärft dieses romantisch-rauhe Klima des Velosport wird, lassen Rasmussens Selbstmordgedanken vermuten - nachdem er des Dopings überführt wurde, damit faktisch zum Verbrecher und zum Freiwild der Postillen herabsank, hätte auch er sich fast eingereiht in die Riege der velozipedistischen Suizidanten.
Ullrich nicht in Form, Fragezeichen (großes, verlogenes, heuchlerisches Fragezeichen!), musste man zu dessen Karrierezeiten häufig lesen. Nicht in Form, weil er Zweiter war; Zweiter in Alpe d'Huez, Zweiter beim Einzelzeitfahren, Zweiter in der Gesamtwertung - nicht in Form, weil er nur Zweitbester beim schwersten Etappenrennen der Welt war; nur Zweiter von hundertneunzig Fahrern der Weltspitze! Jan, hol dir das gelbe Trikot, Ausrufezeichen (arrogantes und anmaßendes Ausrufezeichen!), las man vor dem Start - da war er noch der Jan, der liebe Bub aus dem Volk, der bodenständige "uns aller Jan", dem man gerne auf Soireen die Hand schüttelte. Als man dann aber im jährlichen Turnus erkannte, dass es für einen zweiten Toursieg nach 1997 nicht reichte, wurde aus dem Jan der Ullrich - am liebsten hätte man ihn gesiezt, diesen Vizepedaleur, der nicht in Form war, nur weil ein anderer - meistens war es Lance Armstrong, Superstar und potenzieller Dopingpapst - in besserer Form fuhr. Einer nur, der besser war; hundertachtundachtzig dahinter, dazwischen der Jan, der nun der Ullrich wurde - und dem man nachsagte, er sei nicht in Form, zu dick, zu schlecht trainiert, nicht hart genug, nicht ausreichend erfolgshungrig, dem man am liebsten, wie einst Jens Heppner beim Aufstieg nach Le Deux Alpes, ein "quäl' dich, du Sau" ins Angesicht rufen wollte. Quäl' dich, du Sau - quäl' dich, gewinne für uns, mach uns glücklich!
Dieses repressive Szenario könnte man fairerweise auch beachten, wenn man heute von Ullrich wie von einem Verbrecher berichtet, von einem ganz verschlagenen, unehrlichen Betrüger, der seine kriminelle Handlung nicht freiweg gesteht, der nicht reuig weint, wie sein ehemaliger Kollege Zabel, als er von seinen Sünden berichtete. Diesem Druck, dem der ohnehin einsame und melancholische Typus Sportler ausgesetzt wird, die unbeschreibliche Sensationsgier der Massen, die an den Landstraßen ebenso gieren wie im heimischen Wohnzimmer, dazu natürlich Sponsoren- und Rennstallerwartungen... ist da der Griff zur Transfusion von behandelten Fremd- oder Eigenblut nicht fast schon konsequent, nicht eigentlich schon Makulatur? Man muß es ja nicht tolerieren - aber begreifen könnte man es schon wollen...
... esclaves inutiles, esclaves quand-même; unnötige Sklaven, Sklaven dennoch - sklavisch haben sie nächtens aus ihren Betten zu staksen, den an die Türe klopfenden Dopingjägern ins Döschen zu urinieren, den Schmerz, die Belastung, den dringend benötigten Schlaf zu unterbrechen, um ihre Unschuld zu beteuern. Am nächsten Vormittag haben sie frisch auf der Rennmaschine zu sitzen, Leistung zu bringen, Berge zu erklimmen und das in sagenhaften Zeitspannen. Und hat die Presse Fotos von der nächtlichen Razzia geschossen, auf denen der nackte Sportler zu begutachten war, sein Gesicht so deutlich abgelichtet wie sein Schniedel, dann soll er diese Indiskretion vergessen und sich auf seine Pflicht konzentrieren: den Sklaventreibern am Rande der Landstraße unvergessliche Augenblicke liefern. Augenblicke, die einem Radsportfreund nicht mehr aus dem Sinn gehen, bis die Hiobsbotschaft erschallt: Dopingverdacht! Dann ist der eben noch unvergessliche Augenblick doch vergessen; dann will sich daran keiner mehr erinnern, weil es ein gedopter Augenblick war, ein infamer Betrug am Sklaventreiber - als ob jeder Schrat, der sich mit Sauerstoff angereichertes Eigenblut einflößen läßt, den Tourmalet oder den Galibier hinaufstürmt wie ein irrer Merckx!
Natürlich, nicht nur der Radsportler wird von uferlosen Erwartungshaltungen erdrückt - aber wenig Sportarten scheinen derart auf das Gemüt zu schlagen. Oder ist es das Gemüt, das einen aktiven und agilen Menschen zum Radsportler werden läßt? Zudem wird in keinem Sport so unverfroren nach Doping gefahndet. Der Radsportler, selbst derjenige, der sich mit unlauteren Methoden, die ihm mehr gesundheitlichen Schaden als sportlichen Nutzen bringen, hervorgetan hat, er ist kein Verbrecher: er ist ein ganz armes Schwein...
Giganten der Landstraße nannte er sein fast schon epochales Meisterwerk. Trotz allem, Giganten sind die heutigen Radsportler nicht weniger - am Ende einer zwei- oder dreiwöchigen Rundfahrt den Zielort zu passieren, gleichgültig ob auf dem Treppchen oder als Wasserträger, der in den Spezialkategorien unter "ferner fuhren" zu finden ist: eine gigantische körperliche Leistung, ein gigantischer Wille ist heute immer noch notwendig, um die Schmerzen, den Gegenwind und natürlich die Einsamkeit des Radrennfahrers zu ertragen. Die Velozipedisten der Neuzeit sind nicht jene der heroischen Epoche - sie haben sich verändert, sie schweißen nicht, wie es die mittlerweile schon berüchtigte Legende des vieux galois Eugène Christophe erzählt, jeden Gabelbruch selbst zusammen. Das sicher nicht! Aber das saisonale Pensum und der somit einhergehende Raubbau am eigenen Körper sind dennoch fast schon heldenhaft.
Giganten wären auch die heutigen Fahrer - andere als damals sicherlich, nicht aber verweichlichter. Der verklärte Blick zurück ist auch im Sport oft milchig. Früher war nicht alles besser: es war alles anders! So wie heute alles anders ist, wie es morgen sein wird - heute ist die gute alte Zeit von morgen, hätte Karl Valentin in getragener Ernsthaftigkeit kalauert. Sie wären Giganten - sind es aber nicht, dürfen es nicht sein. Die Giganten der Landstraße sind zu Sklaven der Landstraße geworden. Sklaven, die man ohnedies seit Jahren wie Kriminelle behandelte: dem Antidopingwahn sei dank! Es ist ja ehrenhaft, sich zum Anwalt sauberen Sports zu machen. Aber Radsportler nackt aus ihren Zimmern zu treiben, wie es schon mehrfach geschah; sie unter Generalverdacht zu stellen, wie es Sportverbände und Medien ständig tun: das führt zu weit. Selbst das in dubio pro reo ist außer Kraft gesetzt - im Zweifel ist man nicht freigesprochen, man ist Dopingsünder; einer, dem man ächtet, weil er nicht mal die Courage besitzt, sein schlimmes Verbrechen zu gestehen. Im Jahr 1998, damals als Marco Pantani einen Hungerast Ullrichs gnadenlos ausnutzte, sich in die Palmarés der grande boucle, der Tour de France fuhr, machte sich das halbe Fahrerfeld auf den Heimweg, nachdem die Dopingfahnder mit den Fahrern wie mit Kriminellen umgesprungen waren. Entweihte Giganten, Sklaven der öffentlichen Moral, die nun auch um ihren wichtigen Erholungsschlaf gebracht werden können, wenn es die Dopingkontrolleure so wünschen.
Betrüger, alles Betrüger!, wissen auch die Zuschauer. Alle dopen schließlich. Das kann ja durchaus stimmen, es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass sich schier alle Fahrer leistungsfördernde Mittelchen eintrichtern. Dann tritt die Öffentlichkeit moralisch auf, schimpft auf den Radsport generell und seine haltlosen Sitten im Einzelnen, auf diesen unmöglich betrügerischen Schwindelsport als Auswuchs sportlicher Maßlosigkeit. Gleichzeitig aber giert dieselbe Öffentlichkeit nach Sensationen, nach Rekorden, nach Siegen und magischen Sportmomenten. Man will Höchstleistungen sehen, der zweite Platz ist der erste Platz im Feld der Verlierer. Jan Ullrich weiß das, er ist nach Raymond Poulidor der Rekordhalter für den zweiten Platz bei der Tour de France - "unser Jan" war er im Erfolg, Ullrich rief man ihn nur, wenn man von seiner Leistung enttäuscht war; enttäuscht war, obwohl er jahrelang erfolgreich in der Weltspitze mitfuhr, ohne nochmals nach 1997 die grande boucle zu gewinnen.
Seinen zweiten Platz 1996 bejubelte man noch wie einen Sieg; damals war Ullrich eine Sensation, ein Hoffnungsträger, der die Zukunft des deutschen Radsports dominieren sollte; ferner war er der Bezwinger des großen Miguel Indurain, fuhr ihn beim Einzelzeitfahren in Grund und Boden - außerdem hatte sich seit Kurt Stöpel 1932 kein Deutscher mehr den zweiten Platz der Gesamtwertung gesichert. Und dann geschah das, was kühnste Experten bereits erahnt, nicht aber so früh erwartet hatten: Ullrich gewann im Jahr darauf die Tour de France. 1997 war das! Alle zweiten Plätze danach, 1998, 2000, 2001 und 2003 waren eine herbe Enttäuschung für die deutsche Öffentlichkeit. Vom dritten Platz 2005 oder vom vierten Platz 2004, auch umwerfende Leistungen bei einem solchen Rennen, ganz zu schweigen - die waren für die deutschen Medien nicht nur Ausdruck für Ullrichs fehlende Form, sondern für seinen angeblich schlechten und lotterhaften Lebenswandel.
Der Erfolgsdruck macht mürbe und treibt sicherlich nicht wenige Sportler in die Dopingküchen dieser Welt. Fragte sich die deutsche Presse nur einmal, weshalb Ullrich gedopt haben könnte? Dass er gesündigt hat, das steht für die Medien jedoch fest, auch wenn kein Gericht darüber befand. Könnte man bei dieser selbstgerechten Gewissheit nicht wenigstens verlangen, dass nach dem Warum gefragt wird? Nein, kann man nicht! Der Sklave der Landstraße darf pedalierend entzücken, darf ein pédaleur du charme sein - er soll begeistern, er soll Freude bereiten, er soll Erfolge einfahren. Und er soll sich gefälligst nachts nackt aus dem Bett treiben lassen, schlaftrunken in Becherchen schiffen und Fragen beantworten: der saubere Sport hat es verdient, da muß der Mensch, dessen einziges Verbrechen darin bestünde, sich selbst körperlich zu ruinieren, zurückstehen. Für einen sauberen Sport darf der Sportler unsauber behandelt werden - so jedenfalls die allgemeine Sichtweise. Der Zweck heiligt die Mittel!
Armselige Giganten sind das, die da wie Vieh aus den Betten gescheucht werden. Dass mit Mitteln gepuscht wird, ist nichts Neumodisches. Schon der fünfmalige Toursieger Anquetil spöttelte in den Fünfzigerjahren, dass man mit Wasser keinen Klassiker wie Bordeaux - Paris, immerhin über 600 Kilometer, die an einem Tag zu fahren sind, nicht runterreißen könne - geschweige denn gewinnen. Tom Simpson fiel dann 1967, beim Aufstieg auf den Mont Ventoux, tot vom Rad - er war voller Aufputschmittel, die er mit Alkohol hinabgespült hat. Doping ist also fürwahr keine Neuheit; aber mit dieser selbstgerechten Penetranz wurde es noch nie verfolgt.
Radsportler neigen, so wirkt es jedenfalls oft, zur Melancholie; sie sind keine Platzhirschen und drängen sich auch nach Karriereende wenig in die Öffentlichkeit - einen Matthäus oder Klinsmann, einen Becker oder Stich, Schumachers oder Maskes findet man im nachkarrieristischen peloton kaum. Der Radsport ist ein einsamer Sport, wenngleich er als Mannschaftssport betrieben wird - die Einsamkeit auf dem Sattel, der den Hintern schmerzen läßt, zusammengedrückte Hoden, die gesamte verkrampfte Körperhaltung überhaupt: fürwahr héros inutiles! Die Depression ist ein alter Bekannter des Radsportlers, wenngleich man, wie im Falle Marco Pantanis, der tot in einem Hotelzimmer gefunden wurde, oder José María Jiménez', der in einer Psychatrie starb, man stets betonte, dass deren schwere psychosomatischen Probleme auf den exzessiven Dopingmissbrauch zurückzuführen sind, so muß doch gefragt werden, weshalb Radsportler stets aufs Neue den Freitod suchen: Hugo Koblet, Toursieger von 1951 beendete sein Leben ebenso von eigener Hand, wie sein Nachfolger von 1973, Luis Ocaña; Ende der Neunzigerjahre machte Thierry Claveyrolat seinem Leben ein Ende, zuletzt dann Dimitri De Fauw - die jeweiligen Gründe sind mannigfaltig, aber zu erkennen ist schon, dass der Radsport sensible Charaktere birgt, dass dieser Sport an sich melancholisch stimmen kann. Wenn man da so mutterseelenallein pedaliert, in Tälern, auf Bergen, wenn man sich als Einzelkämpfer durch gigantische und pittoreske Landschaften strampelt, dann hat das etwas Erhabenes, etwas Unvergleichliches - aber man wird auch auf seine Nichtigkeit zurückgeworfen, der Kampf gegen die Strecke ist manchmal ein wirklich existenzielles Ringen. Wie verschärft dieses romantisch-rauhe Klima des Velosport wird, lassen Rasmussens Selbstmordgedanken vermuten - nachdem er des Dopings überführt wurde, damit faktisch zum Verbrecher und zum Freiwild der Postillen herabsank, hätte auch er sich fast eingereiht in die Riege der velozipedistischen Suizidanten.
Ullrich nicht in Form, Fragezeichen (großes, verlogenes, heuchlerisches Fragezeichen!), musste man zu dessen Karrierezeiten häufig lesen. Nicht in Form, weil er Zweiter war; Zweiter in Alpe d'Huez, Zweiter beim Einzelzeitfahren, Zweiter in der Gesamtwertung - nicht in Form, weil er nur Zweitbester beim schwersten Etappenrennen der Welt war; nur Zweiter von hundertneunzig Fahrern der Weltspitze! Jan, hol dir das gelbe Trikot, Ausrufezeichen (arrogantes und anmaßendes Ausrufezeichen!), las man vor dem Start - da war er noch der Jan, der liebe Bub aus dem Volk, der bodenständige "uns aller Jan", dem man gerne auf Soireen die Hand schüttelte. Als man dann aber im jährlichen Turnus erkannte, dass es für einen zweiten Toursieg nach 1997 nicht reichte, wurde aus dem Jan der Ullrich - am liebsten hätte man ihn gesiezt, diesen Vizepedaleur, der nicht in Form war, nur weil ein anderer - meistens war es Lance Armstrong, Superstar und potenzieller Dopingpapst - in besserer Form fuhr. Einer nur, der besser war; hundertachtundachtzig dahinter, dazwischen der Jan, der nun der Ullrich wurde - und dem man nachsagte, er sei nicht in Form, zu dick, zu schlecht trainiert, nicht hart genug, nicht ausreichend erfolgshungrig, dem man am liebsten, wie einst Jens Heppner beim Aufstieg nach Le Deux Alpes, ein "quäl' dich, du Sau" ins Angesicht rufen wollte. Quäl' dich, du Sau - quäl' dich, gewinne für uns, mach uns glücklich!
Dieses repressive Szenario könnte man fairerweise auch beachten, wenn man heute von Ullrich wie von einem Verbrecher berichtet, von einem ganz verschlagenen, unehrlichen Betrüger, der seine kriminelle Handlung nicht freiweg gesteht, der nicht reuig weint, wie sein ehemaliger Kollege Zabel, als er von seinen Sünden berichtete. Diesem Druck, dem der ohnehin einsame und melancholische Typus Sportler ausgesetzt wird, die unbeschreibliche Sensationsgier der Massen, die an den Landstraßen ebenso gieren wie im heimischen Wohnzimmer, dazu natürlich Sponsoren- und Rennstallerwartungen... ist da der Griff zur Transfusion von behandelten Fremd- oder Eigenblut nicht fast schon konsequent, nicht eigentlich schon Makulatur? Man muß es ja nicht tolerieren - aber begreifen könnte man es schon wollen...
... esclaves inutiles, esclaves quand-même; unnötige Sklaven, Sklaven dennoch - sklavisch haben sie nächtens aus ihren Betten zu staksen, den an die Türe klopfenden Dopingjägern ins Döschen zu urinieren, den Schmerz, die Belastung, den dringend benötigten Schlaf zu unterbrechen, um ihre Unschuld zu beteuern. Am nächsten Vormittag haben sie frisch auf der Rennmaschine zu sitzen, Leistung zu bringen, Berge zu erklimmen und das in sagenhaften Zeitspannen. Und hat die Presse Fotos von der nächtlichen Razzia geschossen, auf denen der nackte Sportler zu begutachten war, sein Gesicht so deutlich abgelichtet wie sein Schniedel, dann soll er diese Indiskretion vergessen und sich auf seine Pflicht konzentrieren: den Sklaventreibern am Rande der Landstraße unvergessliche Augenblicke liefern. Augenblicke, die einem Radsportfreund nicht mehr aus dem Sinn gehen, bis die Hiobsbotschaft erschallt: Dopingverdacht! Dann ist der eben noch unvergessliche Augenblick doch vergessen; dann will sich daran keiner mehr erinnern, weil es ein gedopter Augenblick war, ein infamer Betrug am Sklaventreiber - als ob jeder Schrat, der sich mit Sauerstoff angereichertes Eigenblut einflößen läßt, den Tourmalet oder den Galibier hinaufstürmt wie ein irrer Merckx!
Natürlich, nicht nur der Radsportler wird von uferlosen Erwartungshaltungen erdrückt - aber wenig Sportarten scheinen derart auf das Gemüt zu schlagen. Oder ist es das Gemüt, das einen aktiven und agilen Menschen zum Radsportler werden läßt? Zudem wird in keinem Sport so unverfroren nach Doping gefahndet. Der Radsportler, selbst derjenige, der sich mit unlauteren Methoden, die ihm mehr gesundheitlichen Schaden als sportlichen Nutzen bringen, hervorgetan hat, er ist kein Verbrecher: er ist ein ganz armes Schwein...