"Mit seinem 1902 erschienen Buch Mutual Aid: A factor of evolution (Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt), wollte er den sozialdarwinistischen Tendenzen seiner Epoche entgegentreten. Kropotkin berichtet darin von Insekten, Vögeln und Säugetieren und ihrer Hilfsbereitschaft untereinander. Gemeinsames Jagen, gemeinsames Aufziehen von Jungtieren, gemeinsame Pflege kranker Artgenossen, gegenseitiger Schutz in Herden, erlernte Konfliktvermeidung - die "Gegenseitige Hilfe" war für Kropotkin eine bewiesene und damit eine erfolgreiche Überlebensstrategie. Er entlarvte sie als wesentlichen Evolutionsantrieb. Die Sozialdarwinisten hätten nicht verstanden, dass "Survival of the Fittest" nicht bedeute: der Stärkste, der Rücksichtsloseste, der Gierigste überlebe, sondern dasjenige Wesen, das am besten angepasst sei. Dass manche Spezies dennoch wie Sieger eines Kampfes aussehen, sich also hemmungsloser vermehren, während andere verschwinden, habe mehr mit Klimaschwankungen und Krankheiten zu tun - nichts aber mit Sieg oder Niederlage beim "Kampf ums Dasein". Kropotkin überträgt die "Gegenseitige Hilfe" im Verlauf seines Buches auf die Menschen. Aufbauend auf Clangesellschaften, Dorfgemeinschaften und Zünften landet er in der modernen Welt - sich zu helfen, es ist demnach kein christlicher oder moslemischer oder jüdischer Kodex, auch keine profane ethische Haltung, sondern dem Wesen des Menschen so immanent, wie jedem natürlichem Geschöpf. Der Mensch sei daher nicht gut, weil es Religionen gelegentlich empfehlen, es ist umgedreht: Religionen lehren hin und wieder ethische Grundsätze, weil sie im Menschen a priori verankert sind.Der "Kampf ums Dasein", zum alleingültigen Naturgesetz erklärt, später zum Kulturgesetz der kapitalistischen Welt gekrönt, war in Augen Kropotkins nichts weiter als die Rechtfertigungsgrundlage der Sozialdarwinisten. Die "Gegenseitige Hilfe", wenn schon nicht zu leugnen, sie doch als Aspekt auszuklammern und zu verschweigen, gehöre letztlich zum Konzept der Rechtfertigungslehre."
- Roberto J. De Lapuente, "Auf die faule Haut: Skizzen & Essays" -