Sinneswandel

Ich habe mich entschieden. Ich mag die Stadt. Ich mag Voronezh. Doch dazu später. Zuerst einige Zeilen darüber, wie es dazu kam.

Ich musste, wie es oft so ist, weg aus der Stadt, um dieselbe mögen zu lernen. Ich musste die Provinz verlassen, um mit dem Gefühl endlich zu wissen, warum ich hier bin, zurückzukehren. Wie ich im letzten Eintrag schon habe anklingen lassen, bin ich am Freitag vor nunmehr fast zwei Wochen nach Moskau gefahren, um dort an einem Einführungsseminar und einer Menschenrechtskonferenz teilzunehmen. Erfahren habe ich dies genau einen Tag vor der Abfahrt. Ich sagte sofort zu.

In den Tagen zuvor quälte mich eine mir bis dahin unbekannte Orientierungslosigkeit – in jederlei Hinsicht. Es prasselte einfach tagelang zu viel auf mich ein. Das ansonsten von mir geliebte Gefühl, in einer fremden Stadt anzukommen, kam nicht wirklich auf. Ich hatte keine Zeit, einfach so – ohne Ziel, ohne Plan – durch die Stadt zu laufen, sie versuchen zu verstehen, zu beobachten. Alles, was ich kannte, war der Weg vom Bahnhof zu meiner Wohnung und von dort zum Büro. Ansonsten nichts. Zugegeben, dieses Gefühl quälte mich. Abgesehen davon war auch mein Arbeitstag von einer gewissen Orientierungslosigkeit gekennzeichnet. Zeitweise hatte ich sogar das Gefühl, mich allzu leichtfertig in das kalte Wasser einer Menschenrechtsorganisation geworfen zu haben. Ich hatte – einfach gesagt – keinen blassen Schimmer, womit ich mich beschäftigen wollte und sollte. Ganz zu schweigen davon, eine Vorstellung zu haben, wie die alltägliche Arbeit abläuft. Kurz: ich war überfordert. Sehr.

Die drei Tage in der russischen Hauptstadt allerdings brachten meinem Kopf die 180-Grad-Wende. Um schon an dieser Stelle ein Fazit zu ziehen: Ich habe noch nie in meinem Leben so viele intelligente, scharfsinnige und interessante Persönlichkeiten getroffen. Das zwölfstündige Einführungsseminar, das vom bekannten russischen Menschenrechtsaktivisten Andrey Yurov geleitet wurde, und meine Teilnahme an der am nächsten Tag folgenden Konferenz “Menschenrechte ohne Vorurteile” setzten einen wahren Denkprozess in Gang, der bis heute anhält. Es ist dies ein Prozess, der mich Schritt für Schritt aus der allzu lieb gewonnenen, weil angenehm ruhigen und konfliktlosen, westeuropäischen Passivität löst. Und ich beginne zu begreifen, wie wichtig es ist, sich für die fundamentalsten und natürlichsten Rechte (und Pflichten) einzusetzen. Dies klingt lapidar, ich weiß. Sieht und hört man sich aber einige tausend Kilometer weiter westlich um, so versteht man den Sinn hinter dieser Aussage: Wer im Fett schwimmt, schert sich weder um Anderes, noch um Andere.

Mir fällt es ehrlich gesagt schwer, meine Bewunderung für jene Aktivisten und Aktivistinnen in Worte zu fassen, die ich in den ersten zwei Wochen kennengelernt habe. Ich bewundere den Idealismus, der hinter allem steckt, die Hartnäckigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen und die Überzeugung, etwas bewegen zu können. Denn sich für die Menschenrechte einzusetzen ist – gelinde gesagt – eine undankbare Angelegenheit. Zu bewältigen sind die endlosen Schikanen und aberwitzigen Entscheidungen der Politik und die Ignoranz eines großen Teils der Bevölkerung nur mit einem: Humor. Oft tiefschwarz-sarkastisch und mit einem Lachen, das im Halse steckenbleibt – anders kann man auf viele Geschehnisse und Umstände einfach nicht reagieren.

Aber genug davon. Ich habe die russische Hauptstadt also mit genau dem oben beschriebenen Gefühl verlassen – und bin zufrieden und gleichzeitig motiviert nach Voronezh zurückgekehrt. Seitdem finde ich mich im Büro gut zurecht, weiß, was ich bis Mitte August gemacht und erreicht haben will und beginne, die Stadt und ihre Einwohner an sich zu begreifen. Während mehrerer Streifzüge offenbarte sich mir etwas, das ich mir vom als dreckigen Moloch verschrieenen Voronezh nicht erwartet hätte: die grüne Seite der Stadt. Gut, bis in die richtigen Plattenbausiedlungen der Außenbezirke bin ich noch nicht vorgedrungen – dennoch wage ich zu behaupten, mich in einer vor Parks und Grünanlagen strotzenden Stadt zu befinden. Überhaupt hat Voronezh Kleinstadtcharakter – und das trotz der 900.000 Einwohner. Um mich kurz zu halten: Es ist hier weit schöner, als ich mir ausgemalt hatte. Das Zentrum, etwas erhöht am rechten Ufer des aufgestauten Voronezh-Flusses gelegen, beeindruckt durch ein unglaubliche Vielfalt der Architektur: von traditionellen Holzhäusern über Barockgebäude bis hin zu Zuckerbäckerstilpalästen und Zweckbauten aus der späten Sowjetzeit – man findet so ziemlich alles. Die neueren Stadteile, am linken Ufer gelegen, sind eher von gewohnter grauer Platten-Monotonie geprägt. Aber auch dies hat, so meine ich, seine Ästhetik.

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