Viele Menschen erleben im Laufe ihres Lebens Formen einer Sucht. Spielsucht, Kaufsucht, Freßsucht, Sportsucht, Trinksucht, Rauchsucht, Tablettensucht … Im Sinne der klassischen Verhaltenslehre, ist Sucht in vielen Fällen einfach nur eine Übersprungshandlung. Unfähig, das eigentliche Problem durch eine gezielte Handlung zu lösen, weicht der Mensch auf eine andere Tätigkeit aus, die ihn ablenkt und ihm eine Befriedigung verschafft.
Seit soziale Medien auf dem Vormarsch sind und intensiv genutzt werden, mehren sich auch Meldungen über Fälle von Facebook-, Twitter-, Youtube-Sucht und die Sucht nach anderen Netzwerken. Aber sind diese Süchte mit den erstgenannten zu vergleichen? Ist es überhaupt eine Sucht, so wie wir die anderen Süchte verstehen? Schadet das Netz gar unserer psychischen Gesundheit?
Schaut Euch an, was wir dort machen. Wir teilen uns mit. Wir teilen unsere Gedanken. Täglich. Milliardenfach. Und wir können das vor einem Milliardenpublikum tun, wenn wir wollen. Das fasziniert uns. Da sind Mechanismen am Werk, wie sie Menschen zu Schauspielern werden lassen, zu Musikern, zu Politikern und Publizisten. Es sind Mechanismen, die nichts mit dem Netz als solchem zu tun haben, sondern ausschließlich mit dem Bedürfnis des Menschen, Gedanken zu teilen und dafür vielleicht Bestätigung von anderen Menschen zu bekommen. Mit dem Unterschied, im Netz kann plötzlich jeder ein Schauspieler, Politiker oder Publizist sein. Das Netz ist eine Bühne für alle geworden.
Mit Tabletten, Alkohol, Drogen und anderen Süchten, verschleiern wir unsere Realität, betäuben wir Probleme, verdrängen sie damit, nur um danach wieder mit ihnen aufzuwachen. Diese Süchte grenzen früher oder später vollständig aus. Die Menschen stürzen ab. Sie kommunizieren nicht mehr, sie teilen ihre Gedanken nicht mehr. Wer das gleichsetzt mit einer “Sucht” nach sozialen Netzwerken, hat etwas wichtiges nicht verstanden. Die sozialen Netzwerke sind ein Lebensraum geworden. Eine neue Realität, in der immer mehr Menschen einen Teil ihres Lebens verbringen. Hier werden Sorgen und Nöte geteilt, Ratschläge gegeben, Freundschaften geschlossen und beendet. Hier hat man Spaß und Ärger, wie im physischen Leben auch. Wir haben mit dem Netz die Grenzen unserer räumlichen Welt überwunden. Wir leben nicht mehr in einer Dorfgemeinschaft. Wir leben in einer virtuellen Weltgemeinschaft. Hier gibt es plötzlich wieder ein Miteinander, das viele einsame Menschen im Alltag vermissen.
Wer sich im Netz verliert, ist auf der Suche. Auf der Suche nach Gemeinschaft mit Menschen, dem Gedankenteilen. Es hat nichts mit dem zu tun, was wir sonst unter Sucht verstehen und behandeln. Man müsste andernfalls jeden Menschen, der nicht gerne alleine ist und sich mit anderen Menschen trifft, als süchtig bezeichnen. Soziale Netzwerke intensiv zu nutzen, ist für mich keine klassische Sucht. Es ist die Befriedigung eines Grundbedürfnisses des Menschen, wie wir gesehen haben. Es ist das, was Menschen machen, die sich abends in der Kneipe, auf dem Schützenfest, beim Sport, oder sonst wo treffen. Gedanken teilen.
Ich sehe ein, die Gefahr ist da, dass Menschen vollständig in diese Welt abdriften. Dass Menschen vollständig den Anschluss zu ihrer physischen Welt verlieren. Begünstigt wird die Gefahr eines Abdriftens vor allem durch die Hektik und mangelnde Zeit in unserem Alltag. Die persönliche, ausführliche und individuelle Beratung, das verständnisvolle Ohr, die tröstenden Worte, werden immer mehr zur Mangelware. Sie verlagern sich ins Netz. Menschen, die sich im Netz verlieren, fehlt bereits Anschluss im physischen Leben. Aber sie kommunizieren noch. Sie teilen ihre Gedanken.
Wer sie nicht nutzt, bleibt irgendwann stehen. Wir müssen nur lernen, richtig damit umzugehen. Und wir müssen es unseren Kindern beibringen. Die sozialen Netzwerke abzulehnen, bringt uns nicht weiter. Sie sind längst ein Teil unseres Lebens, der nicht mehr wegzudenken ist. Sie können uns sogar helfen, unser Leben zu organisieren. Wir laden uns längst über das Netz ein und treffen uns auf Veranstaltungen, von denen wir über das Netz erfahren haben. Die größte Herausforderung liegt darin, neue Umgangsformen zu erlernen. Jede Kommunikation zwischen Menschen ist nur so gut, wie sie ehrlich, authentisch, mit Zeit und Respekt füreinander ist. Das gilt für das Netz genauso, wie für das physische Leben. Und ganz besonders, wenn beide aufeinander treffen.
In diesem Sinne, bleiben Sie gesund und haben Sie keine Angst, soziale Netzwerke machen nicht krank.