Das achtjährige Gymnasium gehört zu den umstrittensten Bildungsreformen der letzten Jahre, wenn man einmal vom Bologna-Prozess absieht. Mit der Zielsetzung, das Alter des Berufseintritts zu senken, wurde das Gymnasium von neun Jahren auf acht heruntergeschraubt, ohne substantielle Streichungen am Stoff, was zu ausgedehnten Wochenstunden bei den Schülern führt. Nicht nur diese Stundenbelastung wurde oft gegen die Reform zu Felde geführt, sondern auch der Verdacht, dass in acht statt neun Jahren zwangsläufig doch auch Kompetenzen auf der Strecke bleiben müssten, die Schüler also weniger können. Mit einer neuen Studie hofft der Hamburger Schulsenator nun, diesen Verdacht endgültig widerlegen zu können, denn das Ergebnis lautet: die G8-Schüler sind sogar besser als die G9-Schüler. Erreicht wurde dieses Ergebnis trotz einer Netto-Erhöhung der Abiturientenzahlen. Nun mag es durchaus sein, dass diese Ergebnisse existieren. Bei einer Studie des für die Politik zuständigen und sie aktiv vertretenden Senators ist man jedoch naturgemäß vorsichtiger. Und tatsächlich fallen bereits in der Berichterstattung der Zeit einige Punkte auf, die zumindest fragwürdig sind und die Frage nach Kausalität und Korrelation aufdrängen.
Zuerst einmal wurde in der Studie nur überprüft, wie die Leistungen der Schüler in den "berufsrelevanten" Fächern sind - Englisch, Mathematik und "Naturwissenschaften" (was auch immer darunter verstanden wird). Fächer wie Deutsch, immerhin auch ordentliches Hauptfach und Kernfach im Abitur, fallen dabei heraus. Gerade in Deutsch und den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern macht sich aber die mit dem Alter einhergehende Reife am deutlichsten bemerkbar. Ein Beispiel: Rechenwege und Beweise können einfacher erlernt werden als die Fähigkeit, hinter die komplexen Abläufe internationaler Politik zu blicken. Die in den Geisteswissenschaften geforderten Reflexionsfähigkeiten entwickeln sich zur Blüte erst im jungen Erwachsenenalter. Viele G8-Schüler erreichen das aber vor dem Abitur gar nicht; das eine fehlende Jahr macht sich hier deutlich bemerkbar. Die Studie testet hier also Fächer, in denen ein Abfall ohnehin weniger stark zu erwarten war. Gleichzeitig haben besonders die Naturwissenschaften seit der PISA-Studie 2000 eine deutliche Stärkung und Förderung erfahren. In Baden-Württemberg wurden komplett neue Unterrichtsfächer dafür eingeführt, die einen Fächerverbund darstellen und größeren Fokus legen. Der erste Jahrgang mit dem achtjährigen Gymnasium begann 2004 - also genau, als diese Reformen zu greifen begannen. Man sollte erwarten, dass so viele Maßnahmen auch einen Effekt haben. Nur, den könnten sie theoretisch auch im Rahmen des G9 erreicht haben. Die Studie beweist hier also gar nichts.
Ein gewichtiges Argument der Studie ist es auch, dass erstmals Leistungen von Abiturienten im G8 und G9 direkt verglichen wurden. Der Neuigkeitswert verliert stark an Attraktivität wenn man sich vor Augen hält, dass wir das erste Jahr mit Abiturienten aus dem G8 erst 2011 hatten - es gibt bisher überhaupt nur einen Jahrgang, der das Abitur vollendet hat. Dazu kommt, dass der Vergleich von "Leistungen" im Bildungsbereich ein Dauerproblem ist. Das war den Autoren auch klar, die immerhin von einem platten Notenvergleich absehen. Stattdessen bewerten sie die erworbenen Kompetenzen. Zur Erklärung: Die Didaktik geht gerade davon aus, dass statt dem reinen Vermitteln von Stoff (z.B. "Was hat Napoleon in Deutschland getan?") die Vermittlung von Kompetenzen im Vordergrund steht (z.B. Bedeutung des Code Civil eigenständig erarbeiten). Soweit, so vernünftig, dieses diaktische Modell wird eigentlich - aus gutem Grund - nicht in Frage gestellt. Nur, eingeführt wurde die Konzentration auf Kompetenzen 2004, mit dem G8. Das G9 wurde noch nach "Lehrplänen" unterrichtet, die auf Vermittlung von Wissen setzten. Die neuen "Bildungspläne" dagegen sehen die Erlangung von Kompetenzen als zentral an. Kurz gesagt: da werden Äpfel mit Birnen verglichen.
Für den Bildungssenator ist die Studie natürlich toll, denn sie erlaubt es, mit Zahlen und Fakten das G8 zu verteidigen. Ob es wirklich besser oder schlechter als das G9 ist, lässt sich aber schlicht nicht sagen. Es ist anders. Manches ist besser, anderes wird sicherlich nicht so gut sein wie früher (wie erwähnt, die geistige Reife...). Die gesellschaftliche Entscheidung war die für einen früheren Eintritt ins Berufsleben, ein Ziel, das G8 klar erreicht. Wer sich humanistischen Bildungsidealen verpflichtet, kann da nur Grausen empfinden und das G9 als Heiligen Gral empfinden. Es ist letztlich eine Frage der Prioritäten; ein objektives "besser" oder "schlechter" kann man nicht finden. Vor diesem Hintergrund ist auch diese Studie (und andere der gleichen Art) zu bewerten.