Sind die Konsumenten schuld?

Von Oeffingerfreidenker

Von Jan Falk


Der eine Fall ist kriminell, der andere wohl "nur" üble Ausbeutung im Rahmen der Gesetze. Und doch haben diese Woche zwei aufsehenerregende Geschichten aus der Wirtschaft viel gemeinsam: Pferde in der Lasagne und Leiharbeiter bei Amazon. Für beide soll, meinen viele Kommentatoren, letztlich der Konsument mit seinem Geiz und seiner Bequemlichkeit verantwortlich sein. Doch wer das glaubt, ist auf geschickten Spin der Wirtschaft reingefallen.


Ein undurchsichtiges Geflecht aus Zulieferern, Schlachthöfen und Produzenten verkauft in Europa Tiefkühllasagnen mit Pferdefleisch, ohne es zu kennzeichnen. Eine ARD-Doku deckt in mühevoller Recherchearbeit miserable Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern in Amazons Vorweihnachtsgeschäft auf. Zwei weitere Fälle in einer endlosen Reihe von Wirtschaftsskandalen der letzten Jahre. Wall-Street-Meltdown, BSE, zweifelhafte Apple-Zulieferer. You name it. Letztlich sieht so Kapitalismus aus, wenn er zu wenig kontrolliert und reguliert wird: Gewinnmaximierung um jeden Preis, bis an die Grenze der Legalität und oft genug darüber hinaus.


"Weil wir essen, wie wir essen"


Doch halt! Profitieren nicht die Konsumenten von den günstigen Preisen und wollen es gar nicht anderes? Werden nicht deshalb die aktuellen Fälle wohl schnell wieder vergessen werden, nachdem kleinere Shitstorms über Amazon und die Fleischindustrie hinweggefegt sind? Dies oder Ähnliches liest man zu solchen Anlässen immer wieder in den Leitartikeln. Durch ihren Geiz und die vorherrschende Billigkultur seien es letztlich die Konsumenten, die Dumpinglöhne und Ekelfleisch erst verursachten. Was so billig in den Handel komme, könne eben auch nicht ethisch korrekt hergestellt werden. "Dass der nächste Lebensmittelskandal früher oder später kommt, kann als sicher gelten. Weil wir essen, wie wir essen. Und kaufen, wie wir kaufen", schreibt Charlotte Frank in der SZ. Und auch zum Fall Amazon erzählt uns die Süddeutsche eine solche Geschichte: 

"Der Paketbote ist schuld. Er hat die Lieferung von Amazon nicht bei den Nachbarn abgegeben, sondern in der Buchhandlung im Nebenhaus. Damit bringt er einen in eine unangenehme Situation. Jetzt steht man verlegen vor dem Ladenbesitzer und sagt: "Ich glaube Sie haben etwas für mich, von Amazon." Er straft einen mit dem verachtungsvollen Blick des Verratenen, als er den braunen Karton mit dem Logo übergibt. "Sie wissen, dass Sie jedes Buch auch bei mir bestellen können." Ja, kann man. Aber man tut es nicht. Amazon hat den Buchhändler zum Briefkasten degradiert."

Noch einen Schritt weiter geht Tobias Fuentes, wenn er linken Bloggern vorwirft, "alle, von NDS, Jens Berger über R. Lapuente bis Lutz Hausstein ... verkaufen ihre Bücher trotz beklagter Zustände (wieder) auf Amazon … hier kommt Geltungsanspruch und Heuchelei vor Moral." Die Blogger machen sich, folgt man Tobias Fuentes, schuldig durch Nicht-Boykott bei gleichzeitiger Kritik an einem sich unkorrekt verhaltenden Konzern. Nicht Amazon solle sich demnach ändern, sondern die Kunden (unter Inkaufnahme wahrscheinlich hoher Verluste) mit dem Entzug ihres Geschäftsverhältnisses Druck ausüben, auf dass sich der Konzern vielleicht in der Folge bessern möge. 


Bio und Manufactum: nette Hobbies


Die Annahme einer (Mit-)Verantwortung des Konsumenten für die Produktionsverhältnisse scheint also heute fast selbstverständlich. Und tatsächlich, könnte man einwenden, besteht ja die Auswahl zwischen Bio und billig, lokalem Händler und Amazon. Der Umsatz mit Bio-Produkten stieg in Deutschland im letzten Jahr um sechs Prozent auf 7,04 Milliarden Euro an. Und wer sich für das ethische Produkt entscheidet, erhöht damit schließlich auch dessen Marktanteil. Aber ist es wirklich sinnvoll, von den Konsumenten viel mehr zu verlangen als ihre Bedürfnisse durch Kaufakte zu befriedigen?


Nun möchte ich niemanden davon abhalten, auch auf Umwelt und Soziales zu schauen. Im Gegenteil. Aber seien wir mal ehrlich: Bio und Manufactum Kaufen sind nette Hobbies der oberen Mittelschicht, die es ihnen erlauben, sich kulturell zu distinguieren. Die Auswirkungen auf die realen Produktionsverhältnisse bleiben punktuell. Es wird die Ausnahme bleiben. Klassische Marktvariablen geben meist weiter den Ausschlag: Preis, Qualität, Verfügbarkeit.


Das Ideal des moralischen Konsums ist, bei genauerer Betrachtung, ziemlich anspruchsvoll: Es setzt nicht nur einen gut verdienenden, sondern auch einen informierten und gutwilligen Käufer voraus. Mit der sozialen Realität in vielen deutschen Haushalten (und global ohnehin) hat das aber relativ wenig zu tun. Nicht verwunderlich, dass z.B. immer noch nur ein Prozent des verkauften Fleischs in Deutschland aus Biozucht kommt. Ist es nicht eigentlich viel wahrscheinlicher, dass sich in Kauf-Situationen einer oder mehrere der folgenden Szenen abspielen? 

  • Der Käufer hat kein Bewusstsein für die externe Kosten eines Produkts
  • Den Käufer interessiert die Thematik nicht 
  • Der Käufer kann sich Bio oder Fairtrade nicht leisten
  • Der Käufer tätigt einen Lust-/Spontankauf 
  • Der Käufer hat zwar gute Absichten, fällt aber auf irreführendes Marketing rein 
  • Der Käufer entscheidet sich zwar für ein scheinbar biologisches oder faires Produkt, dieses ist aber falsch etikettiert. 
  • Der Käufer möchte sich gerne über die Produktionsstandards einer Ware informieren, kann diese aber trotz intensiver Recherche nirgends finden. 
  • usw. 

Moralischer Konsum ist also unwahrscheinlich. Aber er ist möglich! Und das ist genau der sweet spot für die Industrie. Mit dieser divide and conquer-Strategie erreicht sie nicht nur eine optimale Marktabdeckung. Viel wichtiger für die Wirtschaft: Die Dominanz über den Konsumdiskurs. Solange ein Teil die Konsumenten die Verantwortung für anfallende externe Kosten potenziell bei sich selbst sucht und der andere Teil der Problematik indifferent gegenübersteht, fordern nur wenige mehr Transparenz, strengere Regulierungen oder höheren Mindeststandards von der Wirtschaft.


Die Unterscheidung zwischen moralischem und billigem Produkt wird so zu einem nützlichen ideologischen Konstrukt, das politische Energie verhindert. Denn, nicht vergessen: Verantwortlich sind letztlich immer die Konsumenten, denn sie könnten sich ja theoretisch anders entscheiden.


Privatisierung der Nachhaltigkeit fragwürdig


Das Ergebnis: Eine inaktive Politik, weiterhin relativ schwache Umweltstandards, fehlende Mindestlöhne und nur wenig Transparenz. Das gefällt der Wirtschaft, denn sie scheut Regulierungen wie eine Katze die Badewanne, und seien sie noch so gesellschaftlich gewinnbringend. Erinnern wir uns daran, wie sich die Automobilbranche gegen den Katalysator gewehrt hat, die Finanzindustrie gegen eine Besteuerung des High-Frequency-Tradings zetert oder Apple sich bemüht, Informationen über Zulieferbetriebe zu limitieren. 


Aber daraus folgt eben auch: Eine Verbesserung der Produktionsverhältnisse insgesamt erreichen wir nicht an der Kasse, sondern in der Wahlkabine. Dafür sind höhere Standards und mehr Kontrollen nötig. Denn der Konsument, er ist überbewertet. Er ist wie der Scheinriese aus Jim Knopf: Je näher man ihm kommt, je genauer man sein Verhalten untersucht, desto kleiner und schmächtiger erscheint er. Seine Einsichten in und sein Einfluss auf eine immer undurchsichtigere globale Wirtschaft sind im Grunde minimal. Die "Privatisierung der Nachhaltigkeit", wie Armin Grundwald den Verantwortungstransfer zum Konsumenten nennt, ist ein Irrweg. Jeder soll privat das tun, was er kann, aber das reicht nicht.


Letztlich müssen wir uns fragen: Interessiert uns nur die (moralische) Qualität derjenigen Produkte, die auf unserem eigenen Teller landen? Dann können wir mit dem jetzigen Zustand vielleicht noch ganz zufrieden sein - falls wir es uns leisten können. Oder wollen wir die Verhältnisse etwa bei der Fleischproduktion oder in den Warenlagern dieses Landes und dieses Kontinents grundsätzlich und allgemeinverbindlich verbessern? Dann führt kein Weg an einer anderen Politik vorbei.
Augstein und Blome haben das Thema in gewohnt clownesker Weise ebenfalls diskutiert: