Simon: "Sie haben sich jahrelang in Deutschland für die Integration eingesetzt, insbesondere für die Integration türkischstämmiger Menschen. Sehen Sie den aktuellen Stand in Deutschland als gelungen an oder gibt es aus Ihrer Sicht noch Verbesserungspotential?"
R. Süssmuth: "Ich möchte Sie an einer Stelle korrigieren: Es ging mir beim Thema "Integration und Teilhabe" im Allgemeinen um die ausgegrenzten Menschen in Deutschland bzw. die ausgegrenzten Zu- und Einwanderer. Wir haben Fortschritte erzielt, sind aber noch längst nicht am Ziel. Wir haben uns zu lange geweigert anzuerkennen, dass wir ein Einwanderungsland sind und haben die Einwanderer oft primär als Belastung empfunden - nicht als Bereicherung. Sicherlich waren sie als Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen eine große Hilfe. Trotzdem haben noch viel zu viele von ihnen den Eindruck, sie seien unerwünscht. Auch die friedlichen Muslime, sind oft der Meinung, dass wir ihre Religion nicht achten und wertschätzen, sondern sie auch immer mit Terrorismus verbinden."
Simon: "Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Forderung von Muslimen nach muslimischen Feiertagen?"
R. Süssmuth: "Natürlich haben wir nicht nur unsere seit langem bestehenden Feiertage, sondern auch die Feiertage anderer Kulturen zu achten. Wir müssen es ihnen ermöglichen, ihrem Glauben nach zu leben und ihre Religion praktizieren zu können."
Simon: "Wir sind ein christlich geprägtes Land und haben entsprechend viele christliche Feiertage. Würden es dann nicht zu viele Feiertage werden, wenn die muslimischen noch dazu kämen?"
R. Süssmuth: "Das wären zu viele, ja, aber dann müssten wir in diesem Zusammenhang auf einen Teil unserer Feiertage, wie zum Beispiel die Pfingstnacht oder den Buß- und Bettag, verzichten oder - was wir auch von den Eingewanderten anderer Glaubensrichtungen erwarten - die entsprechenden Tage nacharbeiten. Eine Lösung kann da sicher gefunden werden."
Simon: "Wir sind in einer Diskussion unter Freunden diesbezüglich auf eine sehr faszinierende Lösung gekommen: Denkbar wäre doch, dass man die Feiertage, sei es jetzt christlich, muslimisch, hinduistisch oder buddhistisch, als gesetzlichen Feiertag abschafft und es jedem Arbeitnehmer freigestellt ist, an diesem Tag Urlaub zu nehmen. Ein Christ könnte sich dann Fronleichnam frei nehmen, sein muslimischer Kollege am Ramadan. So wäre aus unserer Sicht eine Gleichberechtigung gewährleistet."
R. Süssmuth: "Dann haben Sie noch nicht die Anzahl der Feiertage reduziert, sondern stellen es nur frei, ob man ihn nimmt oder nicht nimmt."
Simon: "Genau."
R. Süssmuth: "Dann wäre das auch ein Schritt hin zu einer Lösung hin."
Simon: "Man könnte natürlich auch mit einer gewissen Quote arbeiten, die festlegt, wie viele Mitarbeiter aus einem Betrieb sich jetzt den betreffenden Feiertag nehmen dürfen. Aus Arbeitgebersicht freut man sich natürlich, weil man mehr Arbeitstage hat und im Vorfeld weiß, welcher Arbeitnehmer welchen Feiertag nehmen möchte."
R. Süssmuth: "Sehen Sie, ich war gestern und vorgestern in den Niederlanden. Der 1. Mai ist dort kein Feiertag. Da haben einige Behörden frei, aber der privatwirtschaftliche Bereich, der Handel hat geöffnet."
Simon: "Der Tag der Arbeit ist ja eher auch ein politischer Feiertag."
R. Süssmuth: "Ja, gut, es geht ja um eine Reihe unterschiedlicher Feiertage, der 3. Oktober ist ja auch Nationalfeiertag. Aber wir brauchen solche Überlegungen, wie wir nicht nur unsere Probleme, sondern auch die Probleme und Wünsche der anderen positiv beantworten können."
Simon: "Thema "Politikverdrossenheit": Die Deutschen sind ja aktuell bekanntlich so politikverdrossen wie noch nie zuvor. 2007 haben Sie ein Buch geschrieben „Dennoch: Der Mensch geht vor. Für eine Umkehr in Politik und Gesellschaft." Darin haben Sie gefordert, dass Politik wieder glaubwürdiger werden muss und sie mehr dem Menschen dienen muss als umgekehrt. Welche Möglichkeiten sehen Sie noch, dass sich wieder mehr Deutsche für Politik interessieren?"
R. Süssmuth: " Es ist nicht so, dass alle Bürgerinnen und Bürger sich von der Politik abwenden bzw. politisch nicht mehr interessiert sind. Aber viele sind enttäuscht, andere wiederum sagen: "Wir werden als Bürgerinnen und Bürger nicht gehört!" Die Politik handelt so, dass sie immer weniger daran denkt, was die Probleme, die Nöte und die Wünsche der Menschen sind. Und es ist viel an Vertrauen verloren gegangen. Wir sehen die seit Jahren andauernde Banken- und Finanzkrise. Die hat das Vertrauen noch weiter geschmälert. Wenn Sie mich jetzt fragen: "Wie bekommen wir das wieder hin?",dann antworte ich, dass wir als Erstes den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zeigen müssen! Die Wahrheit ist zumutbar und immer die Angst zu haben, wir würden die Menschen damit überfordern, teile ich nicht. Zweiten, wir müssen die Bürgerinnen und Bürger an den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, beteiligen. Niemand kann heute mehr behaupten: "Ich habe die Lösung für all die Probleme!" Diese können nur gemeinsam erarbeitet werden. Bei Bürgerinitiativen in kleineren und größeren Kommunen stellen wir immer wieder fest, dass es eine Menge an Ideen, Bereitschaft und Engagement gibt. Es ist nicht so, dass sich alle abwenden und nur ihr privates Ich pflegen. Es gibt viele, die sich engagieren, sowohl gegenüber Bedürftigen, Behinderten, Kranken oderMigranten. Ich muss sagen, dass unser Land darin seine besonderen Stärken hat. Nun gilt es, diese wieder zu nutzen."
Simon: "Sie haben eben von Vertrauen gesprochen, wie kann man aus der Sicht des Politikers das Vertrauen des Bürgers wieder gewinnen?"
R. Süssmuth: "Egal, ob esum Politiker, Ärzte, Wirtschaftsbosse oder andere Menschen geht: Wenn Menschen zeigen, dass sie verlässlich sind und ihr Wort halten, dann kann auch wieder Vertrauen wachsen. Wenn ich aber die Befürchtung habe, mir wird kein klarer Wein eingeschenkt, oder sich die "Die machen doch, was sie wollen!"-Meinung durchsetzt, dann können Sie kein Vertrauen gewinnen. Ich erlebe immer wieder, dass Bürger erstens bereit sind, zuzuhören und sich zweitens auch mit Problemen auseinandersetzen. Drittens bringen sie auch gern Vorschläge für Problemlösungen ein. Glauben Sie nicht, dass die Gewählten bereits die Lösung für die Probleme haben! Es würde sich sehr lohnen, von den Bürgern zu hören, wie sie Probleme angehen würden."
Simon: "Stefan Raab hat sich auf die Fahne geschrieben, das Interesse von Jugendlichen an Politik mit der Sendung "Absolute Mehrheit" zu wecken. Kann so eine Sendung ernsthaft dazu beitragen, dass sich junge Menschen mehr mit Politik beschäftigen? In der letzten Sendung wurde doch durch den Auftritt des Rappers Sido das ganze Format mehr oder weniger parodiert... "
R. Süssmuth: "Nur mit einer Sendung wird kein echtes Interesse an Politik geweckt. Vor allem bei verloren gegangenem Vertrauen braucht es längere Zeit, um dieses wieder aufzubauen. Vertrauen ist aber unverzichtbar für unser Zusammenleben. Ich glaube schon, dass es darauf ankommt, wie der Umgang mit Problemen und Kritikern in Bezug auf die Politik praktiziert wird. Es gibt gute und schlechte Parodien, aber zu unserem Leben gehört auch, dass wir uns selbst auch auf die Schippe nehmen, dass wir Humor haben und dass wir lachen können. Manchmal hat dieses Lachen etwas Befreiendes. Man kann sich von seinem Groll verabschieden und sieht die Welt wieder anders."
Simon: "Letzte Frage: Sehen für Ihre Arbeit für die HIV-Prävention eine Chance, dass es in der katholischen Kirche durch den neuen Papst Franziskus zu einem Wechsel in der Ansicht in katholischen Kirche kommen wird? Er gilt ja als ein liberaler Katholik."
R. Süssmuth: "Das wissen wir noch nicht. Ich möchte aber zunächst betonen, dass seine Nähe zum Menschen, beispielsweise bei der österlichen Fußwaschung, sehr aufgefallen ist. Er hat keinen Unterschied gemacht, ob er Katholiken, Protestanten oder Menschen anderer Religionen die Füße gewaschen hat. Es war auch egal, ob der Betreffende schwarz oder weiß war. Es ging auch nicht darum, ob Menschen mit oder ohne Vorstrafen vor ihm standen. Stattdessen hat der neue Papst nach der Botschaft der Bibel gehandelt: Nehmt euch der Schwächsten, der Bedürftigsten, nehmt euch jener an, die am Rande der Gesellschaft ausgestoßen sind! Und insofern komme ich auf Ihre erste Frage zurück. Das Allerwichtigste ist, heute nennen wir das Intrusion, nicht auszugrenzen, sondern teilhaben zu lassen. Wo Menschen sich nicht zugehörig fühlen, werden sie eher apathisch oder aggressiv und da sehe ich bei Franziskus eine neue Weise, sich den Menschen zu nähern und zu sagen: "Auch Du gehörst zu uns und bist nicht mehr ausgestoßen!"