Woher kommen nun die Ornamente, Kleidungsstücke und Merkmale einer zornvollen Gottheit? Gemäß den Tantras bedrohte Matram Rudra, der Schwarzmagier und Dämonenkönig, in prähistorischer Zeit auf einer Insel im indischen Ozean das Überleben der menschlichen Rasse. Aus diesem Grund errangen Hayagriva und Vajra Varahi Eingang in seinen riesigen Körper und sprengten ihn von innen heraus auf. Danach legten sie seine Kleider und seinen Schmuck an und gingen daran, die niederen Dämonen zu unterwerfen, indem sie sie mit ihrer zornvollen Erscheinung erschreckten. Simhamukha beispielsweise trägt diese Ornamente. Als Königin der Nacht hält sie die alptraumhaften, dämonischen Wesen in Bann, die immer wieder versuchen, unsere klaren Bewusstseinswelten aus den zwielichtigen Bereichen jenseits davon zu erobern. Als aktive Manifestation von Leerheit und Weisheit vertreibt ihr Löwengebrüll die diskursiven Gedanken. Und sie ist nackt, weil sie von begrifflichen Gedanken leer ist.
Wenn man davon spricht, dass die Große Göttin sich in den drei Archetypen als Jungfrau, Mutter und altes Weib manifestieren kann, dann stellt Simhamukha den Vettel-Aspekt der weiblichen Weisheit dar. Sie ist der Archetyp der zerstörerischen, schrecklichen Mutter, die droht, ihren Sohn auszulöschen, ihn in seiner Existenz bedroht. Was ist schon bedrohlicher als das Löwengebrüll im finsteren Dschungel in der Nacht? Sie stellt die uranfängliche Furcht des Getötet-werdens und Sich-bedroht-fühlens durch eine wilde Bestie dar. Dies ist die Bedrohung der Vernichtung. Aber für jene, die über Kenntnis verfügen, ist die löwenköpfige Göttin die eigentliche Verkörperung von Leerheit. Sie haben von der großen Leerheit nichts zu befürchten. Sie ist die fürchterliche löwenköpfige Jägerin der Zeit, die am Tor steht, die Aktivitätsmanifestation der uranfänglichen Weisheit, die die Vorstellung eines unwandelbaren, dauerhaften Egos oder einer Substanzhaftigkeit zerstört.
Wilde Weibsaktivität
Simhamukha hat eine so enge Verbindung zu Padmasambhava, dass man eigentlich davon sprechen kann, dass sie seine Anima darstellt. Einer Geschichte zu folge debattierte einmal eine Gruppe buddhistischer Gelehrter an der Universität Nalanda mit einer Gruppe Hindus über bestimmte philosophische Angelegenheiten. Aber die buddhistischen Gelehrten waren bald im Hintertreffen und brachten den Dakinis Pujas dar, baten um ihre Hilfe. Die wohlklingenden Stimmen der Dakinis prophezeiten, dass ihr Bruder – Padmasambhava – am nächsten Tag kommen und ihnen helfen würde. Am nächsten Morgen erschien ein wild aussehender Yogi vom nahen Leichenplatz, betrat die Halle und begann mit den Hindus eine Debatte. Am Ende des Tages hatte er all ihre Argumente systematisch zerlegt. Dennoch blieben einige Gelehrte starrköpfig, beschimpften den Yogi und gingen im Saal überheblich herum. Der Guru saß weiterhin ganz ruhig inmitten des Sturms, der um ihn tobte, gestattete einem Gedanken des Zorns in ihm aufzusteigen und projizierte diese wilde Energie seines Zorns in den Raum unmittelbar vor ihn. Diese Energie verdichtete sich zur erschreckenden Gestalt der wilden löwenköpfigen Gottheit. Die arroganten Gelehrten waren von dieser Erscheinung erschrocken und verließen fluchtartig den Saal. Aber die Göttin verfolgte sie und warf sie zu Boden. Erschrocken beteten sie um ihr Leben und unterwarfen sich dem Guru und seinen Lehren.
Trotz ihrer zornvollen Erscheinung und ihrer magischen Aktivitäten ist Simhamukha eine Erscheinung des erleuchteten Gewahrseins des Buddha und ihre Natur ist Mitgefühl. Sie tötet den Drachen, der die Kräfte des Bösen und des Chaos darstellt. Sie zeigt ihr wildes und zornvolles Gesicht, um fehlgeleitete Wesen zu unterwerfen, gerade so wie eine Mutter ihr ungezogenes Kind zur Ordnung ruft und diszipliniert.
Die weltlichen Götter und Geister sind keine erleuchteten Wesen. Sie sind noch immer durch ihre Unwissenheit und ihr Karma gebunden und halten sich noch immer in Samsara oder der zyklischen Existenz auf. Und manchmal richten sie negative Energie gegen die Menschen in Form von Flüchen. Die Praxis der Simhamukha kann dazu verwendet werden, diese abzuwehren und ihre geistigen Angriffe umzukehren.
Archetypische Betrachtungen
Betrachtet man den Mythos der Simhamukha, dann sieht man, dass hier zwei gegensätzliche Kräfte in Gestalt zweier Gelehrtengruppen im Widerstreit miteinander liegen. Das Erleuchtungsstreben liegt im Streit mit den diskursiven Gedanken, wird von Sturheit, Eigensinn und Arroganz beeinträchtigt. In seiner höchsten Not wendet sich das gute Herz das Erleuchtungsstreben an die weisen Frauen und Himmelsweiber, die die Aktivität der Erleuchtung darstellen und bittet um Hilfe. Der weise Führer in Gestalt eines Gurus vom nahen Leichenplatz – einer Gestalt, die die Vergänglichkeit und Leerheit vollständig realisiert hat – erscheint und zerpflückt die täuschenden Argumente des diskursiven Denkens.
Welcher Art sind nun diese diskursiven Gedanken? Im Kontext der Simhamukha stellen sie die eigenen Verwünschungen, die individuellen Entwertungen, das eigene Hinuntermachen und die Selbstbeschimpfungen dar. Durch das ständige Wiederholen von inneren Monologen des Selbsthasses verwünscht man sich und vergisst dabei auf die angeborene Gutheit in sich. Immer wieder werden die Kräfte der Dakinis – der Himmelstänzerinnen und weisen Frauen – angerufen, ihre Weisheitsaktivität zu zeigen und gegen diese neurotischen Tendenzen des Selbsthasses anzugehen.
In der Methodik der Tantras wird Feuer mit Feuer bekämpft, gleich so wie man bei einem Buschbrand eine Feuerschneise legt, damit das Feuer nicht auf weitere Flächen übergreifen kann und mangels Nährstoff sich selbst erschöpft. Dies geschieht im Mythos durch das Auftauchen der Dakini aus der leeren Ruhe des Gurus, welche dann die ach so klugen Dialoge der Selbsttäuschung vertreibt, aus dem heiligen Raum hinauswirft. Nicht das diese aber nun zerstört werden! Nein, sie werden in den Dienst der Weisheitsnatur gestellt.
Magische Aktivität – erleuchtetes Wirken
Da alles im Geist erscheint, gestalten wir unser Welterleben so, dass dies unsere Identität, unser Selbstverständnis nicht in Frage stellt. Aus diesem Grund greifen wir nach angenehmen Erfahrungen, versuchen unangenehme zu vermeiden und ignorieren neutrale. In unseren sozialen Interaktionen suchen wir nach entsprechenden Projektionsflächen und laden über Beziehungsangebote passende – d.h. unser Selbstverständnis bestätigende – Mitspieler ein. Wir schreiben ihnen Rollen zu und positionieren sie unserem Weltverständnis gemäß. Mit unseren Geschichten schreiben wir unsere Geschichte, drehen den Film unseres Lebens. Gerade deshalb sind die mythischen Betrachtungen einer Weisheitsfigur so interessant, da sie auf ihre Entstehung, ihre Daseinsweise, ihre Aktivität und den Ausdruck ihrer erleuchteten Aktivität verweisen.
In der Durchführung von magischen Ritualen der Simhamukha, die ja ihre erleuchtete Aktivität darstellen, gilt es genau zu erkennen, welche Mitspieler wieder einmal zur Egobestätigung eingeladen wurden, welche inneren Dialoge (Flüche und Verwünschungen), welche Geisteshaltungen in einem selbst dabei sich ereignen. Was hilft es, über Rituale der Umkehr, des Abwendens und Bannens die eigenen Geistesgifte weiterhin auf andere zu projizieren? Ohne eine rechte Sicht, eine rechte Motivation werden diese Praktiken weiterhin eine Quelle des Ungemachs sein.
Aber wie es im Vers 20 der „37 Übungen eines Bodhisattvas“ heißt: „Solange ihr euren inneren Feind, den Hass, nicht überwunden habt, werden sich eure äußeren Feinde – auch wenn ihr sie besiegt – immer wieder erheben. Zähmt daher euren Charakter mit der ganzen Macht von Liebe und Mitgefühl! So üben Bodhisattvas sich.“ In dieser Weise ist der Charakter mit Hilfe der erleuchteten Aktivität der löwenköpfigen Weisheitsdakini – Simhamukha – zu zähmen. Den eigenen Feind, der der sture Glaube an eine eigenständig, selbstexistierendes Ich ist, das es zu hätscheln gilt, diesen gilt es rituell – d.h. bewusst und vorsätzlich – zu unterwerfen und seine fehlende Inhärenz zu erkennen. Dieser ist die Quelle von Dialogen der Überheblichkeit, des Selbsthasses, der Entwertung, Verwünschung und aller andern quälenden Geisteszustände. Es ist nicht so, dass dieser dualistische Vorsatz als tatsächlich vorhandenes Wesen existieren würde und besiegt, vertrieben oder sonst wie behandelt werden müsste. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass dieses Ich von Anfang an nie tatsächlich bestanden hatte, sondern lediglich eine begriffliche Zuschreibung war.