In den höheren Tantras gibt es eine Meditationsgottheit, die sowohl grimmig als auch weiblich ist, die Jnanadakini Simhamukha. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie trotz ihrer äußerst zornvollen Erscheinung und ihres Tierkopfes kein Schutzgeist ist, der in der Vergangenheit durch einen machtvollen Mahasiddha mittels Magie unterworfen wurde, zum Dharma konvertierte und durch einen Eid gebunden wurde.
Zornvolle Manifestation
Simhamukha ist vielmehr eine zornvolle Manifestation der Guhyajnana Dakini, die gemäß der Nyingma-Tradition die Haupt-Dakini-Lehrerin von Padmasambhava im Land Uddiyana war. Obgleich sie also von ihrer Erscheinung her eine Dakini ist, fungiert sie dennoch als Yidam, als Meditationsgottheit und ihre spezielle Fähigkeit besteht in der Abwehr und im Zurückschicken magischer Attacken, die den Praktizierenden angreifen können und in der Unterwerfung negativer weiblicher Energien, die durch Matrikas und Mamos personifiziert werden. Dies sind wilde, unkontrollierbare, weibliche Geister, die in der Wildnis auf Bergen und in Wäldern hausen, jenseits der Beschränkungen der patriarchalen Zivilisation.
Diese weiblichen Geister sind dem männlichen Geschlecht gegenüber grundsätzlich feindselig eingestellt. Simhamukha erscheint in zornvoller, weiblicher und dämonischer Form. Tatsächlich wird gelehrt, dass ihre Form die einer Matrika, einer Mamo ist, nicht weil ihre Natur bösartig oder dämonisch ist, sondern weil ihr zornvoller Aspekt geschickt genau diese gewalttätigen, negativen Energien überwältigt und unterwirft. Simhamukha ist somit eine Jnanadakini, eine Weisheitsgöttin. Gemäß Jigme Lingpa (1726-1798), dem berühmten Nyingmapa-Meister und Entdecker von versteckten Terma-Texten repräsentiert Simhamukha eine Nirmanakaya-Manifestation, die sich im zeitlichen und historischen Kontext manifestiert, während ihr Sambhogakaya-Aspekt Vajra Varahi und ihr Dharmakaya-Aspekt Samantabhadri, die uranfängliche Weisheit selbst ist.
Weibliche Weisheitswesen
Sehr oft waren die Dakinis und die Matrikas alte, vorbuddhistische, heidnische Gottheiten der Erde und des Himmels, obwohl im Allgemeinen die Matrikas eher einem bestimmten Ort zuzurechnen sind. Dakinis können in vielen verschiedenen weiblichen Formen erscheinen, jung und alt, und manche sogar mit Tierköpfen. In der Hindutradition wird die Göttin Durga die Königin der Dakinis, Matrikas und Hexen genannt. In vielerlei Hinsicht repräsentiert Simhamukha die buddhistische Version von Durga, aber anstelle auf einem Löwen zu reiten und mit ihren achtzehn Armen Waffen zu schwingen, hat Simhamukha den Kopf einer Löwin.
Abwehr von Zauber
Unter den acht Tantra-Abschnitten, die im achten Jahrhundert durch Padmasambhava nach Tibet gebracht wurden gibt es einen Abschnitt, der Mamo Bötong genannt wird, „Die Verwünschungen und Zaubersprüche, die mit der Hexengöttin in Verbindung stehen.“ Hierbei nimmt Simhamukha, als die göttliche Hauptfigur, in großem Umfang die Rolle der Hindu-Göttin Durga ein, da sie Dämonen und böse Geister unterwirft und den Praktizierenden vor gezielten Angriffen durch negative Energien schützt, die von den Mamos stammen. Wie auch andere Naturgeister werden die Mamos durch die Zerstörung der natürlichen Umwelt von Menschenhand gestört und bestrafen daher die menschliche Zivilisation mit Plagen, neuen Krankheiten, Erdbeben, Wahnsinn, Kriegen und anderen Heimsuchungen.
Aus dem „Secret Book of Simhamukha“ von Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds; 1987); deutsche Übersetzung von Florian Lobsang Dorje (Florian Schnitzer, 2014) dankend übernommen und nachbearbeitet vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2015).
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ACHTUNG:
Vom 8. – 10. April 2016 überträgt Lama Vajranatha die magischen Praktiken der Simhamukha. Näheres dazu im Veranstaltungskalender!