Warum wir Grenzen brauchen.
Ich bin ein großer Hund!
Den Wunsch, Grenzen zu überschreiten, teilen wir mit vielen Lebewesen.
Das Guinness-Buch der Rekorde zeigt, wozu Menschen fähig sind oder sich freiwillig antun, um Grenzen zu verschieben.
Und auch die mediale Aufmerksamkeit für den sinnfreien Sprung eines Menschen aus 39 km Höhe zeigt, dass Grenzüberschreitungen weltweit stark bewundert werden.
Grenzen werden schnell als einengend, lästig oder überflüssig angesehen, was man auch an Sprüchen sieht wie “Nichts ist unmöglich!”. Doch Toyota meinte damit ursprünglich sicher nicht die Millionen zurückgerufener Autos.
Auch Menschen, zu deren Lebensmotto immer ein überzeugtes “Geht nicht? Gibt’s nicht!” gehörte, mussten mitunter durch einen Burnout erleben, dass Körper und Psyche eben doch Grenzen haben.
Brauchen wir überhaupt Grenzen?
„Ich hasse Grenzen!“ Diesen Stoßseufzer hörte ich mal von einem Vierzehnjährigen, der mit seiner Mutter in eine Erziehungsberatung kam. Kommen musste. Er konnte – oder wollte – nicht einsehen, warum er in die Schule gehen musste. Warum er keine Drogen nehmen sollte. Warum es nicht in Ordnung war, seinen steigenden Geldbedarf durch kleine Überfälle auf wehrlose Omas zu finanzieren.
Ich konnte ihn gut verstehen. Denn er hatte vor allem mit einer Eigenschaft von Grenzen Bekanntschaft gemacht, die tatsächlich unangenehm erlebt werden kann:
- Grenzen engen ein.
- Grenzen beschneiden den verfügbaren Raum.
- Grenzen zeigen uns, wo wir nicht weiter gehen können.
- Grenzen bedeuten: Stop!
Damit haben viele Menschen Schwierigkeiten. Sie stören sich an diesen Grenzen und wollen sie überschreiten. Dieses pubertäre Aufbegehren gegen Grenzen ist allgegenwärtig. Ob beim Übertreten von Geschwindigkeitsbegrenzungen, beim Steuerhinterziehen, beim Zuspätkommen.
In unserer globalisierten Welt genießen wir das Überschreiten von Grenzen. Früher war eine Fahrt durch Europa eine aufregende Sache. Strenge Kontrollen von misstrauischen Zöllnern an der Grenze. Unterschiedliche Währungen, die man mitbringen oder eintauschen musste. Ein Telefonat nach Hause war ein Ferngespräch, das man bei der örtlichen Post anmelden musste. All das ist heute einfacher.
Doch wir erleben auch die gravierenden Nachteile, wenn Grenzen nicht respektiert oder eingehalten werden:
- Die Radioaktivität eines Atomkraftwerks kümmert sich nicht um Staatsgrenzen.
- Kaum ein Land auf der Welt hat einen ausgeglichenen Finanzhaushalt.
- Die Unpünktlichkeit mit Bahn oder Auto kostet manchmal Zeit und Nerven.
- In Deutschland hergestellte Waren konkurrieren mit Produkten aus Ländern mit niedrigerem Lohnniveau oder staatlichen Subventionen.
Das Märzheft der brandeins behandelte das Thema “Grenzen” aus unterschiedlicher Sicht. Vor allem das Interview mit dem Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann hat mich beeindruckt und zu diesem Blogbeitrag angeregt. Er sagt:
Wörtlich könnte man Definition mit Abgrenzung übersetzen. Jeder, der einen Begriff definiert, begrenzt seinen Inhalt, und das müssen wir tun, damit wir uns einerseits als Menschen verständigen und uns andererseits die Welt begreiflich machen können. Der Mensch kann gar nicht anders, als überall Grenzen zu setzen.
Das bedeutet, indem wir einer Sache einen Namen geben, grenzen wir sie damit ab gegen all das, was nicht diese Sache ist und das ist ja der Sinn einer Definition.
Damit etwas existiert, braucht es eine Grenze, um sich von etwas Anderem zu unterscheiden. Die „Ewigkeit“ als Ausdruck einer grenzenlosen Zeit können wir nicht erfassen. Ein Meer wird definiert durch das Ufer, also die Grenze zum Land.
Auch bei uns selbst ist diese Abgrenzung wichtig. Indem ich “ICH” sage, grenze ich mich ab gegen all das andere, was eben “Nicht-ICH” ist.
Gibt es Gute und schlechte Grenzen?
Berlin Nov. 1989
Wer gegen Grenzen wettert oder gar von der kompletten Grenzenlosigkeit träumt, hat meist die dominierende Erfahrung von Grenzen erlebt. In der DDR riskierten Menschen ihr Leben, um in die “Freiheit” zu gelangen.
Doch Grenzen geben auch Sicherheit und Orientierung. Nicht wenige wünschen sich die Mauer in Berlin zurück.
Insofern hat sich Honecker doch nicht geirrt, als er sagte: “Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.”
Auch ein Kind wird sich in seinem 40 qm großen Zimmer nicht die ganze Zeit glücklich auf dem Boden wälzen. Meistens baut es sich nach einer Weile eine kleine Höhle und ist dort schwer wieder rauszuholen. Liessmann meint:
Gute Grenzen erleichtern das Leben. Sie fördern Distanz und Respekt und lassen dennoch Nähe zu. Auch zwischen guten Nachbarn verläuft eine Grenze.
Eine Grenze wird dann zu einer schlechten, wenn sie die freie Entfaltungsmöglichkeit stärker behindert, als es notwendig und sinnvoll ist. Ich würde es auf die Formel bringen: so viel Freiheit wie möglich und so viele Grenzen wie nötig. Und nicht umgekehrt.
Der letzte Satz beschreibt gut den Balanceakt in der Demokratie. Und was diese Staatsform von Diktaturen unterscheidet. Je weniger Grenzen einem von außen gesetzt sind (Eltern, Chefs, Polizei, Staat etc.) umso mehr muss man seine eigenen Grenzen definieren und akzeptieren.
Auch wer gesund bleiben will, muss sich innerhalb guter Grenzen bewegen. Soll weder zu viel essen (Übergewicht) noch zu wenig (Anorexie). Sich genügend bewegen (Fitness) aber auch nicht zu viel (Immunsystem). Kein Wunder, dass so viele Ratgeber geschrieben und gekauft werden.
Als Selbständiger kann ich bestimmen, wann und wie viel ich arbeite. Kein Vorgesetzter muss meinen Urlaub genehmigen. Wenn ich krank feiern will, brauche ich kein Attest vom Arzt.
Aber um meinem Tag eine Struktur zu geben, muss ich mir selbst Grenzen setzen. Für mich ist das ein angenehmer Zustand, andere setzt das unter Druck. Wann habe ich genug akquiriert, gearbeitet, verdient?
Erfolgreiche Schriftsteller sitzen auch nicht im Café und warten, bis die Muße sie küsst. Die meisten haben eine feste Struktur. Morgens drei Stunden und nachmittags noch einmal drei Stunden. Sie wissen um den hilfreichen Wert von selbst gesetzten Grenzen.
Warum wir Grenzen brauchen.
Es scheint gewisse physikalische Grenzen zu geben, die unveränderbar sind, jedenfalls in unserem Universum. Schwerkraft zum Beispiel. Die Frage dabei ist: wie lange?
Doch ansonsten sind alle Grenzen nicht natürlich oder gottgegeben – sondern verhandelbar. Müssen aber auch immer wieder verhandelt werden, denn
- Grenzen erzeugen und ermöglichen Identität.
Erst ein Aufteilen der Erde innerhalb gesetzter Grenzen ermöglicht ein mehr oder weniger friedliches Zusammenleben. Wenn alles allen gehörte, würde niemand etwas besitzen – und endlose Streitereien wären die Folge. Nicht umsonst standen die Grenzen in allen Kulturen unter dem Schutz von Gottheiten.Auch für die alten Römer hatten Grenzen heiligen Charakter. Ihr jährliches Fest der „Terminalia“ ist der sprachliche Vorläufer unserer Termine. So wie auch der altrömische „Limes“, die Abgrenzung durch Messen (limitatio) anzeigt, was einem zugemessen wurde. Also, wo mein „Limit“ liegt.
- Grenzen schützen uns.
Schon die eigene Haut grenzt unseren Körper gegen die Umwelt ab. Unser Immunsystem sorgt dafür dass Wunden – also Verletzungen der Grenzen unseres Körpers – schnell geschlossen werden.
Wer einmal erlebt hat, dass in seiner Wohnung eingebrochen wurde, erlebt die Schutzfunktion der eigenen vier Wände elementar. Selbst wenn nichts gestohlen oder verwüstet wurde, allein das Wissen, dass ein Fremder in unseren Raum eingebrochen ist, lässt uns in der Folgezeit schlechter schlafen. - Grenzen ermöglichen Begegnung und Verbindung.
Wer einem anderen Menschen begegnen will, braucht stabile Grenzen. Braucht ein Gefühl der eigenen Identität. Damit Grenzen sich in der Begegnung auflösen können, muss erst einmal eine Grenze da sein. Zwei Nebelfelder können sich nicht begegnen. Sie können im besten Fall aufeinander zuwabern aber ein wirklicher Kontakt ist schwer beobachtbar.
Und an der Grenze kann auch intensiver Kontakt entstehen. Bewaffnete Grenzkonflikte zwischen Ländern wie auch die Annäherung in der Liebe zeigen das. - Grenzen erschaffen Wirklichkeit.
Unser Leben wird erst möglich durch die Existenz des Todes. Weil wir wissen, dass wir sterben werden, wird das Leben kostbar. Glück wird erfahrbar, weil wir Unglück kennen. Weil etwas aufhört, gibt es überhaupt einen Anfang.
Ist der Tod eine Grenze?
Auch hier hat Liessmann eine gute Antwort:
Für einen religiösen Menschen ist der Tod in der Tat die Grenze, die das irdische Leben von einem anderen Leben unterscheidet. Versteht man den Tod als absolutes Ende, dann ist er keine natürliche Grenze, sondern ein natürlicher Schlusspunkt.
Wenn ich sterbe, dann ist es vorbei. Hier sehen Sie übrigens auch das Humane und Tröstliche an Grenzen. Grenzen können überschritten oder verschoben, zumindest diskutiert werden. Das radikal gedachte Ende ist absolut.
Für Menschen, die an ein Weiterleben nach dem Tod glauben, ist der Tod ein Übergang in eine andere Welt. So wie Christen, Buddhisten oder Islamisten das glauben.
So mancher Taliban sprengt sich in die Luft im Glauben, dass dort im Paradies die berühmten 72 Jungfrauen warten. Dieter Nuhr hält das ja für einen Übersetzungsfehler im Koran und glaubt, dass da nur eine Schale mit Obst wartet.
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