Krise des nationalstaatlichen Parlamentarismus
Dieser Tage spricht Europa und die ganze Welt von Finanz- und Wirtschaftskrise. Von Rettungsschirmen und Euro-Bonds, von Umschuldung und Staatenpleite – den Durchblick behält da kaum noch jemand. Was im Vordergrund hauptsächlich als Schuldendesaster einzelner Länder abgetan wird, entwickelt sich im Hintergrund zu einer wahren Zerreißprobe für die Demokratie.
Das oberste deutsche Gericht hat erst kürzlich die Beschwerden von Bundestagsabgeordneten und Wirtschaftswissenschaftlern zurückgewiesen. Sie hatten sich nur indirekt gegen neue „Tranchen“ aus dem EU-Rettungspakt ausgesprochen; viel wichtiger war ihnen, auf den Verlust der nationalstaatlichen Souveränität hinzuweisen.
Die Abstimmungen im Bundestag sind weit mehr als ein „Ja“ oder „Nein“ zu Milliarden-Bürgschaften – wenngleich das ohnehin schon nicht mehr greifbar ist. Die deutschen Parlamentarier, die sich derzeit nicht trauen, gegen den Fraktionszwang anzugehen, sägen an ihrem eigenen Ast, auf dem sie sitzen. Schon heute kommen zwischen 80 und teils 95 Prozent der Gesetze, die der Bundestag verabschiedet, aus Brüssel und Straßbourg.
In ihren Entscheidungen nicken die Abgeordneten nun auch ab, dass künftig die haushaltspolitische Kompetenz nach und nach an die Europäische Union abgetreten wird. Zwar hat das Verfassungsgericht hiergegen seine begrenzten Einwände ausgesprochen – wie streng man sich an die Vorgaben der Richter hält, hat man bereits bei anderen Grundsatzurteilen gesehen. Hier geht es weniger um Patriotismus, als um den Verlust unseres Parlamentarismus.
Die Abgeordneten sind dabei, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Mehr und mehr Befugnis wandert in die Hände von Lobbyisten, Kommissaren und Räten der EU. „Subsidiarität“ – das Prinzip, wonach Problemlösung nach Möglichkeit auf der kleinsten politischen Ebene betrieben werden soll – bleibt den Staaten dann nur noch in wenigen Angelegenheiten, wie der Bildungspolitik, vorbehalten.
Getrennte Abstimmungen über Schuldenkrise einerseits und die Kompetenzrichtlinien in der Haushaltspolitik gegenüber der EU andererseits will aus der Regierung niemand. Der Machtapparat der Europäischen Union würde ansonsten ins Wanken geraten – das wollen die Vorzeigeeuropäer nicht riskieren. Wem jetzt aber etwas an der grundlegenden Idee der EU liegt, der ist aufgerufen, sich sein „Ja“ noch einmal gründlich zu überlegen. Wer es unfair finden mag, Griechenland jetzt mit einem „Nein“ zu bestrafen, um damit die Demokratie in Europa zu retten, der möge sich vertrauensvoll an die Bundeskanzlerin und ihre europäischen Amtskollegen wenden.
Es ist wahrlich eine ernste Stunde, wenn nun über immense neue Zusatzbelastungen für die deutschen und andere europäische Bürgerinnen und Bürger befunden wird. Gleichwohl könnte diese Entscheidung langfristig die weniger folgenreiche sein, denn: Die Vision eines Staatenbundes verkommt zunehmend zu einem Bundesstaat, in welchem ein wie bisher gekannter, in seinem Komfort für die Demokratie unterschätzter Föderalismus eigentlich nicht mehr gebraucht würde. Weit weg von den zarten Knospen der direkten Partizipation der vergangenen Monate. Und auch Bundestagsabgeordnete wären dann eigentlich überflüssig. Ob das unseren Parlamentariern bewusst ist?
Dennis Riehle