Sie lieben und sie hassen sich

Wiederaufnahme des Schwanensees in einer Choreografie von Bertrand d´At

An der Straßburger Oper, der Opéra national du Rhin, wurde das Ballett „Schwanensee“ nach der bereits 12 Jahre alten Choreografie von Bertrand d´At wieder ins diesjährige Saisonprogramm aufgenommen. Und das zu Recht, wie man gleich vorweg feststellen kann.

Peter Iljitsch Tschaikowskys Stück könnte man als ultimatives Referenzwerk des klassischen Ballettes bezeichnen. Die Geschichte Prinz Siegfrieds, der sich in einen verwunschenen Schwan verliebt, sein ihm gegebenes Liebesgelübde bricht und erst im Tod die Vereinigung und Erlösung seiner Liebesschmerzen erlebt, kennt nicht nur jede noch so kleine Ballettratte, sondern auch all jene Ballettbesucher, die mit zwei linken Füßen ausgestattet sind. Die erste maßgebliche Choreografie, die tradiert wurde, wurde im Jahre 1895, zwei Jahre nach Tschaikowskys Tod, erarbeitet. Von da an erlebte sie zwar immer wieder Modifikationen, aber die ersten wirklich großen Neuinterpretationen tauchten erst Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auf. Als revolutionär schließlich gilt die Choreografie von Matthew Bournes aus dem Jahre 1995, in welcher die Rolle der Schwäne ausschließlich von Männern getanzt wurde.

Bertrand d`At geht einen erfolgreichen Mittelweg. Er kombiniert in seiner Version Historisches mit eigenen Ideen und lässt den Helden einen inneren Konflikt mit sich selbst ausfechten. Es sind keine äußeren Zaubermächte, wie im ursprünglichen Buch, die die Geschicke des Prinzen Siegfried bestimmen und denen er ausgeliefert ist. Seine „dunkle Seite“ erlebt er durch das Auftauchen eines Liebhabers, der mit aller Macht versucht, sich an ihn zu ziehen. Dieser übernimmt bei d´At die Rolle von Odile, jenem schwarzen Schwan, der in Tschaikowkys Ballet das Alter-Ego zu Odette, dem Weißgefiederten darstellt. Beide Partien werden für gewöhnlich von ein und derselben Primaballerina getanzt. Diese antipodische Haltung, die Liebe in all ihren Facetten deutlich macht, bleibt auch bei d´At bestehen, wenngleich in einem anderen geschlechtlichen Kontext. Rothbart, der in der historischen Choreografie in der Rolle des Vaters von Odile auftritt, wird bei d´At jedoch gerade zu jenem dunklen Alter Ego, dem er sich nicht stellen will und letztlich auch nicht stellen kann. Eine kreative Meisterleistung, die den Frauenpart in einen Männerpart verwandelt und psychologisch gesehen als durchaus plausibel bezeichnet werden kann.

So sehr d´At in seinen Erklärungen die Tiefenpsychologie beschwört, so sehr er auf den inneren Zwiespalt Siegrieds verweist, der sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet, so deutlich wird in der Inszenierung durch das Agieren von Rothbart die simple Problematik des Eingestehens der eigenen Homosexualität – bis hin zur Ablehnung und Verweigerung. Damit soll so nahe wie möglich an die seelische Befindlichkeit Tschaikowkys angeknüpft werden, der, gerade zur Entstehungszeit der Musik, eine Ehe eingegangen war. Ein der Gesellschaft geschuldetes Unterfangen, das nach einem Jahr Schiffbruch erlitt und den homosexuellen Komponisten extreme seelische Qualen bereitete.

Siegfried ist in d´Ats Version ein junger Mann, der in einem Internat der Upperclass lebt und sich von seinen Freunden durch sein introvertiertes und scheues Wesen abhebt. Gleich im ersten Bild befindet man sich mitten in einem Turnsaal, in welchem gefochten und gekämpft wird, in welchem es von Testosteron bis in die letzte Reihe Balkon hinauf riecht und in welchem die jungen Männer sichtlich Spaß daran haben, sich gegenseitig zu messen und zu übertrumpfen. Herzerfrischend, wie sich die Tänzer kollektiv gymnastisch ganz im Stile unserer Großeltern aufwärmen. Nur mit Glück wurde bei der von der Rezensentin besuchten Vorstellung kein Instrument ruiniert, als ein übermütig scharf geschossener Ball versehentlich mitten im Orchestergraben landet. Abseits sitzt Siegfried in einer rot gepolsterten Chaiselongue.  Immer und immer wieder drückt er auf die Fernbedienung seines großen Fernsehbildschirms, um sich dort den 2. Akt des klassischen Schwanensees anzusehen. Nur mit Gewalt kann er sich von seiner Traumwelt trennen, um die Geschenke in Empfang zu nehmen, die ihm seine Freunde anlässlich seines Geburtstages offerieren.

Sie lieben und sie hassen sich

Schwanensee an der ONR Strasbourg (c) Jl-tanghe

Die historische Klammer gelingt mit dem zweiten Akt, in welchem Siegfried, wie in einem Traum, die allseits bekannte Szene am See erlebt und Odette den weißen Schwan kennenlernt, bis er schließlich in einen exstatischen Tanz inmitten der zahlreichen Schwäne fällt. Der dritte Akt führt wieder zurück ins Internat. Dort werden die Festgäste für den großen Ball begrüßt, der anlässlich Siegfrieds Brautwerbung gegeben wird. Baron und Baronin von Stein agieren als Zeremonienmeister wie bei einer Castingshow. Wunderbar, wie Pasquale Nocera als Baron die jeweiligen Delegationen ankündigt und zur parlierenden Streichermusik seine Lippen bewegt, sodass man meint, sein Geplapper hören zu können. Exaltiert, unnahbar und „im kleinen Schwarzen“ agierend Sandy Delasalle als Baronin, die auch in dieser Aufführung keinerlei Draht zu ihrem Sohn findet. Anstelle des in dieser Szene bekannten Auftrittes von Odile ist es Rothbart, der Siegfried umschwärmt und ihn zu einem Tanz verführt, an dessen Ende ein inniger Kuss steht. Deutlicher als deutlich kann auf der Bühne ohne Worte nicht gesprochen werden. Blind, wer sich hier auf eine falsche Fährte bringen lässt. Schließlich lässt Bertrand d´At Siegfried im letzten Akt wieder in seinen Traum gleiten, der ihn noch einmal mit den Schwänen am See tanzen lässt. Ohne Strich kommt hier der so berühmte und immer wieder wirkungsvolle Tanz der vier kleinen Schwäne aus, der ja in unzähliger parodistischer Form die Bildschirme und Bühnen der Welt eroberte. Umso schöner, dass sie hier das tun dürfen, was sie „schon immer“ taten: sich artig an der Hand halten, um dabei im Gleichschritt ihre ersten tänzerischen Gehversuche zu machen. Und auch der hilflose weiße Schwan Odette darf sein Solo komplett historisch austanzen – nur mit dem Unterschied, dass das Publikum zu diesem Zeitpunkt bereits weiß, dass das Ende sich anders gestalten wird, als es dies bisher gewohnt war. Vogelhaft-artig zuckt Céline Nunigé noch einmal als verwunschene Odette mit ihren Ärmchen, schwanenhaft grazil verrenkt sie ihr Köpfchen und kommt dabei niemals aus ihrem so kunstvollen exerzierten und qualvoll über Jahre erlernten Spitzeneinsatz. Mit Rothbart gipfelt der Traum – ist es jetzt noch ein Traum? – in ein wildes, furioses und meisterlich getanztes Pas-de-deux der beiden Männer. Sie lieben und sie hassen sich, ziehen sich an und stoßen sich ab, kämpfen und fallen sich in die Arme und als man glaubt, sie hätten sich gegenseitig ergeben, tut Siegfried das, was ihm sein Innerstes befiehlt. Mit gewaltig ausladenden Gesten ersticht er Rothbart, der tot zusammensinkt. Die so atemberaubende Choreografie dieses letzten Aktes lässt jede noch so akkurat getanzte hochmeisterliche historische Ballettanstrengung der Interpretin von Odile daneben blass aussehen. Hier muss man schon ein Kenner des klassischen Ballettes sein, um ihre Leistung parallel zu jener Rothbarts stehen zu lassen. Das Publikum bedachte diesen mit wesentlich mehr Applaus. Wie frustrierend muss dies wohl für eine Primaballerina sein, die, wie im vorliegenden Fall, eine Meisterleistung auf die Bühne brachte. Céline Nunigé bildete mit Renjie Ma als Prinz Siegfried und Ramy Tadrous  als Rothbart ein meisterliches Trio, bei dem tänzerisch niemand von den Genannten auch nur in irgendeiner Art und Weise gegenüber den anderen zurückstand.

Herausragend am Pult Daniel Klajner, der schon mehrfach zuvor an der Oper in Straßburg dirigierte. Seine einfühlsame Art beflügelte das OPS, das Orchestre philharmonique de Strasbourg derart, dass die vielen bunten Klangschattierungen von Tschaikowsky in all ihren unterschiedlichen Nuancierungen schillern, glänzen und glitzern durften. Julien Eberhardt als erster Violinist zeigte, welch große Klasse in ihm steckt. Zart und innig, kräftig und wild – immer bis auf den letzten Bruchteil der Sekunde feinst ausgespielt erklangen seine – die Inszenierung so maßgeblich beeinflussenden – Soli. Ausverkaufte Vorstellungen bewiesen: Bertrand d´Ats Inszenierung mausert sich zum absoluten Schwanensee-Klassiker. Und das zu Recht.


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