„Meine Patentante ist eine starke, emanzipierte Frau, die ihren Weg geht und sich keine Grenzen setzen lässt.“ Und insgeheim wollte ich auch immer werden wie sie. Damals als ich noch mit glänzenden Augen von ihr schwärmte, war ich vielleicht zehn bis zwölf Jahre alt. Seitdem hat sich vieles verändert. Nicht zu letzt wir beide uns selbst.
Schon in den vergangenen zwei/drei Jahren hatte sich deutlich etwas in unserem Verhältnis verändert. Ich fand, sie wurde immer schrulliger. Dieses Etepetete-Verschrulltsein wurde immer offensichtlich bei Telefonaten, wenn sie hörbar die Nase rümpfte, alles besser wusste, demonstrativ keinen Rat annahm. Man gesteht es diesen alleinstehenden Grundschullehrerinnen zu. Schließlich muss jeder selber wissen wie er leben möchte. Und sie war glücklich. Verreiste jedes Jahr, hatte ihre Freunde und war sich sicher, dass die auch immer für sie da sein werden. Und dann kam alles anders als sie dachte.
Die Operation war mit der heutigen medizinischen Technik nur eine Kleinigkeit. Die Narben auf ihrem Körper sind schon gar nicht mehr zu sehen. Aber die Narben auf ihrer Seele erreichten ein unvorstellbares Ausmaß. Denn wenn man im Krankenhaus liegt dann ist es eben doch etwas anderes, ob Freunde oder die Familie zu besuch kommt. Und wenn man danach nicht alleine klar kommt, dann ist es ein enormer Unterschied, ob Freunde oder die Familie sich kümmert.
Meine Patentante ist 50 Jahre alt. Alleinstehend. Hat einen anstrengenden Beruf. Wenn sie nach Hause kommt, dann ist niemand da. Meine Tante ist alleine und das hat sie jetzt kapiert. Sie hat Depressionen.
Und ich fühle mich hilflos, weil ich sie in den letzten Jahren verloren habe und jetzt nicht mehr zu ihr durchdringe. Und ich habe Angst, wei ich auf dem besten Weg bin genau wie sie zu enden: ohne Familie und einsam.