Veröffentlicht am 29. Dezember 2013 | von Greta Egle
0Sickfuckpeople
Sickfuckpeople Greta EgleWertung
Summary: Wichtiger Dokumentarfilm, der einem hart und nah eine Realität vor Augen hält, die anzusehen schwer fällt.
4.5
Dokumentation
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Zwischendurch tut einem alles weh, während man im Kinosaal sitzt und sich Juri Rechinskys Dokumentarfilm Sickfuckpeople anschaut. Denn es sind so hoffnungslose Bilder aus dem Alltag einer Gruppe ukrainischer Straßenkinder mit denen man hier konfrontiert ist, dass man manchmal wegblicken muss, auf die Stuhlreihe vor einem, auf das Notlicht an der Tür, damit man Distanz zu den Bildern und Geschichten auf der Leinwand schafft.
Rechinsky, der erst 27jährige ukrainische Regisseur, baut seinen Film als Triptychon auf. Im ersten Teil Childhood folgt man der Kamera in den Untergrund, wo eine Gruppe Jugendlicher in den Gängen der Katakomben hausen, die sich kilometerweit unter dem Pflaster Odessas erstrecken. Dreck und Kälte sind allgegenwertig, alte vergammelte Matratzen liegen neben rostigem Altmetall und sonstigem Sperrmüll. Mit dem Sammeln von Metall versuchen sie etwas Geld zusammen zu bekommen, sonst gehen sie in die Einkaufspassage und probieren dort ihr Glück beim Betteln.
Unkommentiert beobachtet die Kamera (Alex Zaporoshchenko, Serhiy Stetsenko) die jungen Leute, die eigentlich noch Kinder sind, deren Alltag aber kaum in Verbindung mit einer gängigen Vorstellung von Kindheit zusammenzubringen ist. Rechinsky ist in nächster Nähe, wenn sie sich im kalten Winter in alten Dosen und Gläsern ein wenig Fertigsuppe zusammenmischen, wenn sie sich tagein tagaus durch die unglaublich enge Öffnung zentimeterweise aus dem Abgrund in die Oberwelt und wieder zurück hieven, wenn sie ihren Straßenköter streicheln und auch wenn sie sich reihum einen Schuss setzen.
Unbegreiflich erscheint, wie es auszuhalten sein kann, als Außenstehender so nahe an diesem Elend dran zu bleiben, was Rechinsky folgend kommentiert: „I‘ve been sitting there silently, looking at their preparations. When they began to shoot up, my only will was to turn my head away, to scream, to cry, to shut my eyes and never see this again. But I was watching how their veins were torn by the needles over and over again. When the last of them made an injection, the first one started it over. Few hours later, after climbing out of their hole, after drinking and vomiting a bottle of cognac, I‘ve realized that I have no other option than to film them.
Erstaunlich ist aber auch die Humanität, die unter so unmenschlichen Lebensbedingungen immer wieder sichtbar wird. So sieht man Momente der Fürsorge um einander und die notdürftige Hilfe, wenn einer der Gruppe wieder einmal einen Epilepsieanfall hatte. Der erste Teil legt den Grundstein für die anderen zwei Erzählteile Mother und Love. In diesen begegnet der Regisseur zwei der Jugendlichen wieder, die in Childhood gezeigt wurden. Beinahe verwundert ist man darüber, dass sie es lebendig durch ihre Kindheit geschafft haben.
In Mother folgt Rechinsky seinem Protagonisten bei der Suche nach dessen Mutter. Gemeinsam fahren sie im Zug in eine kleine ukrainische Stadt, der Junge erzählt zögerlich von den letzten zwei Jahre, berichtet darüber, dass er jetzt clean sei und seine Mutter schon jahrelang nicht gesehen habe. Und, dass er ihr bevor er weggegangen sei, Geld gestohlen habe. Trostlos erscheint der Ort als sie ankommen, trostloser die zwei Ex-Männer, die nur über die Mutter schimpfen. Sie selbst wird nicht gefunden. Dennoch, die Mühen der Reise erscheinen als eine Art Aufbruch. Ein kleiner zumindest.
In Love, dem letzten Teil, quetscht man sich in ein enges Zimmer, das in einer Art Baucontainer zu liegen scheint. Eine junge Frau aus der Gruppe von früher, wohnt dort mit ihrem Freund in einer Art Matratzenlager. Ein alter Fernseher, eine kleine Katze und ein Hund bilden so etwas wie ein Zuhause. Das Paar wirkt extrem verlangsamt, das Leben und die Drogen haben ihre Spuren hinterlassen. Sie ist schwanger und die beiden erzählen voller Hoffnung von ihrer Freude darüber und ihren Zukunftsplänen. Dennoch erscheint ihre Situation so stagniert und die beiden so gelähmt, dass man das Gefühl hat, Kindern beim Herbeiphantasieren ihres zukünftigen Lebens zuzuhören.
Als sie ins Krankenhaus muss, weil nicht sicher ist, ob ihr Körper die Schwangerschaft aushalten würde und die Ärzte ihr zu einer Abtreibung raten, scheint die Fahrt ins Spital für ihren Freund unmöglich. Auf die Frage aus dem Off, ob und warum er nicht zu ihr fahren möchte, antwortet er mit einem hilflosen Schulterzucken. Er wisse es selbst nicht. Die Realität der Krankenhauskorridore will und kann er nicht anerkennen.
Schließlich trifft man auch noch auf die Schwestern der Frau, denen jegliches Mitleid für ihre nächste Verwandte in den letzten Jahren komplett abhanden gekommen sein muss. Sie habe ihren Weg selbst gewählt und sei ihrer Meinung nach nicht als Mensch zu bezeichnen, erzählt die eine dem Filmemacher. Er solle lieber einen Film über das arme Kind machen, sollte es geboren werden. Der Film endet mit Schwänen und Möwen am winterlich verschneiten und vereisten Meer. Gelähmt sitzt man nach Filmende im Kinosaal und es fröstelt einen. Sickfuckpeople lässt die ZuschauerInnen aufgewühlt zurück. Ohne Kommentierung hat man siebzig Minuten eine Realität gesehen, von der man nicht sicher ist, ob man sie kennen wollte. Ein wichtiger Film.
Regie: Juri Rechinsky
Kamera: Alex Zaporoshchenko, Serhiy Stetsenko, Musik und Sound: Anton Baibakov
Laufzeit: 72 Minuten, Kinostart: 13.12.13, www.sickfuckpeople.com
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Über den Autor
Greta Egle