Sicht, Meditation und Verhalten

JamgonEine Darstellung der Sicht

Zuerst die Kurzdarstellung über die Sicht. Die grundlegende Natur, das Gewahrsein, das sich selbst kennt, welches von allen Wesen natürlich besessen wird, ist uranfänglich rein, ungeschaffen und immer ein Zustand der Leerheit.
Daher ist seine Daseinsart Geburtslosigkeit. Es hat die Natur der Nicht-Beendigung, weil es sich durch einen Vorgang der Selbsterhellung manifestiert. Es wirkt als alles durchdringendes Mitgefühl, weil sich sein Leuchten und seine Macht als Samsara und Nirvana manifestieren.
Es ist „komplikationsfrei“, indem es frei von Erschwernissen wie Form, Farbe, Bestehen und Nicht-Bestehen ist. Es ist weder befleckt noch verändert durch begriffliche Haltung des Denkens „es ist Leerheit.“
Es ist frei von der Fixierung an die Dualität von etwas, das verstanden wird und dem Gewahrsein, das versteht. Es ist die uranfängliche Weisheit, die Gedanke und Ausdruck transzendiert. Es ist wie Raum. Man sollte die Gewissheit haben, dass absolut kein Padmabhasajvala[1] besteht, anders als das. Obwohl es die Vielfalt der sechs Bewusstseine[2] manifestiert, wird es in sich selbst von nichts gestört. Daher erscheinen alle Erscheinungen als Leerheit.
Man soll Erscheinungen, Klänge und Gewahrsein ohne Abwandlung oder Veränderung als Körper, Rede und Geist des Gurus verstehen.
Kurzum, die Sicht, die realisiert wird, das Ziel der Praxis, das erkannt werden muss, ist jenes, obwohl es nichts zu realisieren gibt und niemanden, der realisiert, gibt es eine direkte Einführung in die Weisheit, die in einem selbst existiert, genauso wie sie ist und man verweilt ohne Unsicherheit oder dualistische Festsetzung im uranfänglich reinen, mühelosen Zustand. Diese Sicht ist die Grundlage eines Gebäudes.

Eine Darstellung der Meditation

Man erlangt eine direkte Einführung in diese uranfänglich reine wahre Natur, indem man versteht, dass sie der eigene Geist ist. Das ist ein nacktes Gewahrsein, das von keinem Wissensobjekt verändert wird, ungetrübt von Fixierung, unbehindert von Zurückweisen oder Gegenmittel ist. In diesem Zustand ist alle Ruhe, alle Bewegung nichts anderes als die selbstenstandene Weisheit. Man muss eine eindeutige Überzeugung durch das Verstehen dessen erlangen.
Alles im Geist und seine Empfindungen entspringen zuerst aus der innewohnenden Natur aller Phänomene,[3] sie manifestieren sich, während sie diese innewohnende Natur sind und schließlich fließen sie wieder in diese innewohnende Natur zusammen.
Daher sollte man Vertrauen in den befreiten Zustand entwickeln, indem man erkennt, dass nichts bindet oder befreit. Obwohl Täuschung niemals auch eine Existenz hatte, solange Gedanken in der Weite der innewohnenden Natur aller Phänomene enden, wird Gewahrsein veräußerlichte Objekte verfolgen. Daher belässt man den Geist so lange er nicht in einen Zustand von Trägheit gleitet, entspannt im nackten selbsterkennenden Gewahrsein, das ohne Erwartung oder Sorge, Unterdrückung oder Annahme ist. Gewohnheit und Eingewöhnung damit sind der Kern und das Leben aller Praktiken der Erzeugungs- und Vollendungsphasen.[4]

Eine Darstellung des Verhaltens

Es gibt viele Kategorien von Verhalten in Beziehung zu unterschiedlichen Zusammenhängen. In diesem Fall werden die vorher beschriebene Sicht und Meditation als das Herz des Verhaltens genommen und der Yoga der Untrennbarkeit von Erzeugungs- und Vollendungsstufen bewahrt, ohne einen Unterschied zwischen den meditativen und nach-meditativen Phasen, sodass sie wie das beständige Fließen eines Stromes sind.
Die Erzeugungsphase im Wissen, dass Erscheinungen ohne Wirklichkeit sind, ist die „illusorische Erzeugungsphase“. Die spontane Präsenz der Untrennbarkeit von Erscheinungen und Leerheit ist die „tiefgründige Erzeugungsphase“. Der Körper der Gottheit mit Gesicht, Armen etc. ist die „Praxis der Erzeugungsphase“. Die Einheit dieser drei ist das selbsterkennende Gewahrsein, die unvergängliche Macht der leuchtenden Klarheit der Leerheit, die als der Körper des Padmabhasajvala erscheint, eine Erscheinung ohne irgendeine wahre Realität. Man hält den Geist darauf ohne Ablenkung in nicht-fixierter Achtsamkeit und übt in Erscheinungen und Klängen als die Gottheit und das Mantra.
In der Vollendungsphase erlangt man zuerst durch Bemühung und willentlicher Achtsamkeit eine Stabilität der groben und subtilen Gedanken. Man hält eine tiefe Entschlossenheit bei, bis die Stabilität beständig wird. Wenn der meditative Zustand unberechenbar und weit wird, werden die Trennung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem in den grundlosen Grund geklärt. Das natürliche Leuchten dieser Leerheit und Selbstlosigkeit, die wie der Raum ist, erscheint als wechselseitig bedingte Erscheinung. Daher übt man sich in Samsara und Nirvana als das Spiel der innenwohnenden Natur aller Phänomene.
Eine Erzeugungsphase, unabhängig von der Vollendungsphase und der schlichten Leerheit des Auslöschens der Erscheinungen, ist fehlerhaft. Ein Praktizierender muss die Einheit von Erzeugungs- und Vollendungsphasen beibehalten.
Die Gesamtheit der unaufhörlichen Manifestationen des Geistes sind die Mittel – die Erzeugungsphase.[5] Die Gesamtheit der wahren Natur dieser Manifestationen, die der Zustand der Leerheit ist, ist Weisheit[6] – die Vollendungsphase. Diese zwei Phasen sind unterschiedslos wie Wasser und Feuchtigkeit – das ist der „Yoga der Einheit“.
Hinsichtlich äußerer Erscheinungen gibt es die natürliche Präsenz der Erzeugungsphase. Hinsichtlich des inneren Geistes gibt es die natürliche Präsenz der Vollendungsphase. Hinsichtlich des gleichen Geschmacks von Erscheinungen und Geist, wie bei Gold und seiner Farbe, gibt es die natürliche Präsenz der Einheit von Erzeugungs- und Vollendungsphasen.
Auch wenn ein Anfänger Schwierigkeiten im Erkennen dessen hat, kann er oder sie jedoch verstehen, dass der Geist, der als Gottheit erscheint, die Erzeugungsphase ist, dass die Gottheit der eigene Geist ist, die Vollendungsphase ist und dass das Realisieren dieser beiden als untrennbar, der Yoga der Einheit ist. Die Praxis dieser ist die Essenz oder Lebenskraft aller Praktiken.
Wenn jemand, ohne diese wesentliche Bedeutung verstanden zu haben und ohne die Bodhicitta-Motivation[7] meditiert, dann meditiert dieser mit begrifflicher Identifikation, mit Anhaftung und Ablehnung und mit solchen Absichten wie dem Erlangen von Erfolg in der Praxis der Gottheit, dem Unterwerfen von Dämonen und dem Kräftigen der Rede, dann ist es egal, wie klar die Gottheit visualisiert wird, wie viele Mantras man rezitiert, weil man niemals frei von Vergnügen und Unbehagen werden, durch das Wahrnehmen von Dingen als wirklich. Daher werden diese Gedanken für jeden, der im Retreat praktiziert, zu einem Hindernis werden. Es liegt in der Natur der Dinge, dass eine Fülle an Krankheiten, negativen Umständen usw. auftreten werden.
Wenn der wesentliche Punkt dieser Praxis nicht verstanden wird und die innere Bedeutung des Dharma verhüllt bleibt, dann werden entsprechend dieses ungeheuren Fehlers der großen Erwartung und dem Fixieren auf eine fieberhaft aufwändige Visualisation Schwierigkeiten und Hindernisse das Ergebnis sein. Wenn sie auftreten und man nicht versteht, dass sie der eigene Geist sind, wird man von Gedanken an Gut und Böse, von Erwartung und Sorge gefesselt werden. Man wird an diesen Hindernissen in einem selbst festhalten und die eigenen Gedanken dazu verwenden, das auszulöschen [was als schlecht angesehen wird] und das zu erschaffen [was man für gut hält], was kurzfristig wiederum unerwünschte Erfahrungen auftauchen lässt und langfristig allgemeine Ergebnisse im Missverstehen des höchsten Resultats.
Man muss das schlüssige Verständnis haben, dass alle Phänomene in Samsara und Nirvana der eine Bindu des selbsterkennenden Gewahrseins[8] sind. Man muss den Yoga der Einheit beibehalten, der ein entspanntes Gewahrsein in einem weiten, ausgeglichenen Gleichmut ist, wo die Konzepte von etwas, das praktiziert werden muss und jemandem, der praktiziert, von jemandem der verschleiert ist und etwas, das verschleiert und alle anderen geistigen Fixierungen von Gut und Schlecht, Zurückweisen und Annehmen spontan befreit und bereinigt sind.
Es ist die innewohnende Natur dieses Yogas, dass jene, die diesen beibehalten, von der Möglichkeit, dass eine Schar an Hindernissen auftritt, befreit sein werden. Sie werden die höchsten spirituellen Verwirklichungen erhalten und zu dieser Zeit werden die allgemeinen Verwirklichungen mühelos und spontan als ein natürliches Zubehör erlangt werden.

Verfasst von Pema Gargyi Wangchug (Jamgon Kongtrul) als Einleitung ins Konchog Chidu – der Vereinigung der Drei Juwelen.
© deutsche Übersetzung: Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2013); Möge es von Nutzen sein!

Anmerkungen:

[1] Padmabhasajvala; tib., Padma ‘od ‘bar, wörtlich: „Lotusscheinendes Licht“; es ist der Name, der hauptsächlich für Padmakara in der Praxis des Ratnasamanyasamgha verwendet wird.

[2] Die sechs Bewusstseinsarten sind jene des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Berührens und das geistige Bewusstsein.

[3] Skrt., Dharmata; tib., chos nyid

[4] Erzeugungsstufe; skrt., utpattikrama; tib., bskyed rim. Das ist gewöhnlich die Praxis der Visualisation der Gottheit und ihrem Mandala. Vollendungsphase; skrt., sampannakrama; tib., rdzogs rim. Allgemein die Praktiken, die die subtilen Kanäle und Winde im Körper beinhalten und eine direkte Erkenntnis der Natur des Geistes.

[5] Methode – skrt., upaya; tib., thabs

[6] Weisheit – skrt., prajna; tib., shes rab

[7] Bodhicitta; tib., byang chub kyi sem. Wörtlich „Erleuchtungsgeist“. Während seine letztendliche Form die Erkenntnis der wahren Natur aller Phänomene ist, wird wie hier der Bezug zu seiner relativen Form hergestellt, dem Wunsch und die Motivation, alle Wesen vom Leiden zu befreien und sie alle in den Zustand der Buddhaschaft zu versetzen.

[8] Bindu des selbsterkennenden Gewahrseins; „Bindu“ bedeutet wörtlich eine winzige Kugel oder einen Tropfen, was das selbsterkennende Gewahrsein in sich selbst beinhaltet, all die Vielfalt von Samsara und Nirvana ohne irgendetwas auszulassen.


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