Wenn wir “Afghanistan” hören, denken wir oft vor allem an Krieg, an Taliban, Russen und Mujahedin.
Woran wir viel seltener denken sind die Menschen, die in all dem Elend leben müssen. Denen – und vor allem den Frauen Afghanistans – ist dieses Buch gewidmet.
Siba Shakib gelingt das fast Unmögliche: sie gibt den vielfach Unterdrückten, den Frauen des Landes eine Stimme. Und ohne je ins Sentimentale abzudriften vermag sie es, die Lebensgeschichte der Shirin-Gol so zu erzählen, dass es manchmal schwer fällt, das Buch weiterzulesen. Kaum zu ertragen ist diese Aneinanderreihung von Verlust und Armut; von Flucht, Hunger und Angst. Kaum erträglich die Schilderungen der Steinigung im Fußballstadion von Kabul – in den Halbzeitpausen des Fußballspiels. Und schier unerträglich über die “schönsten Augen der Welt” zu lesen: im Gesicht des Jungen, der sich allein mit einem Armstumpf durch die Straßen Kabuls bewegt.
Und es gelingt ihr zudem, selbst den Taleban – nicht der Gesamtheit; aber einigen – ein Gesicht zu geben. Zu erklären, wie sie wurden, was sie sind: unmenschliche, verblendete Lebenshasser. Und doch auch Söhne liebender Mütter.
Es gibt Abschnitte im Buch, die sind wie Lyrik auf das Gerade-Einmal-Notwenigste zusammengefasst; Abschnitte, in denen einzelne Worte, Wortwiederholungen wie atemlose Gedankenfetzen daherkommen und mich unruhig zurücklassen.
Die Geschichte der Shirin-Gol (dt.: “Süße Blume”) ist nicht allein die Geschichte einer Frau, die die Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion erlebt und in diesem Krieg Vater und Brüder verliert; nicht allein die Geschichte einer Frau, die in den Kriegen der Mujahedin um die Macht Hoffnung und Tochter verliert; nicht allein die Geschichte einer Flucht in den Iran und wieder zurück; nicht die Geschichte eines abgestorbenen, halbtoten Landes unter der Knute der Taleban… es ist die Geschichte des Landes. Shirin-Gol kann auch als Symbol für die Mütter, für die Frauen des Landes gelten. Als Opfer, deren Aufbegehren (in Gestalt der Ärztin Azadine) noch viele Opfer bringen wird. Aber auch die Hoffnung, dass jeder Widerstand auch Hoffnung ist.
“Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen” erschüttert und rüttelt auf. Vielleicht kann es die Augen öffnen dafür, dass dieses Land am Hindukusch viel näher ist als wir vermuten. Dass die dort lebenden Menschen eben auch Menschen sind. Die – wie wir – in Ruhe und Frieden leben wollen. Und deren einfache Wünsche und Rechte wir zu respektieren haben.
Siba Shakib spricht vom Krieg der Nordallianz (und der Unterstützung durch den Westen) voller Hoffnung. Hoffend, dass die Diktatur der Dummheit und der Ignoranz, die Diktatur der religiös Verblendeten und Verblödeten – der Taliban – beendet wird. Dass diese Hoffnung derzeit wieder enttäuscht wird, dass es noch immer die einfachen Menschen wie Shirin-Gol sind, die unter dem andauernden Krieg in Afghanistan leiden, dies sollten wir bedenken, wenn wir darüber diskutieren, ob sich die westlichen Armeen aus dem Land zurückziehen sollten.
Wie kann Frieden werden? Wie Versöhnung in einem Land, in dem seit Generationen Vater gegen Sohn und Bruder gegen Bruder Krieg geführt haben? In einem Land, dass mehr Minenopfer forderte als irgendwo sonst auf der Welt? Ein Land, in dem es inzwischen kaum noch eine Rolle spielt, wofür (wenn es denn je einen Grund gab) gekämpft wird.
Lest das Buch und versucht Lösungen zu finden, die den Menschen in Afghanistan nachhaltig helfen. Bomben und Drohnen scheinen mir nicht die Lösung zu sein.
Nic
Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen: Die Geschichte der Shirin-Gol – Siba Shakib – Goldmann Verlag 2003 – ISBN: 3442455154 – 8,95 Euro