"Shoplifters - Familienbande" / "Manbiki kazoku" [J 2018]


Mutterschaft sei das größte und komplexeste Thema, über das die amerikanische Journalistin, Autorin und Mutter Hillary Frank je berichtet habe. Frank wollte, zum Beispiel, untersuchen, warum so viele Mütter nach der Geburt mit Schmerzen im Beckenbereich lebten, warum es – selbst im Lichte aufklärerischen Fortschritts – immer noch einem Sakrileg gleichkommt, wenn Sexualität explizit "in der Luft" liege. Antworten bekam die Podcasterin mit einem bisweilen brüsken, gar prüden Warnhinweis. Es sind diese von sich weisenden Antworten, bei denen jedoch allein die Frage lohnt. Solche Fragen, wenn auch weniger physisch manifesterer Natur, stellt Hirokazu Koreeda in "Shoplifters". Fragen, wie sie das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen: Was bedeutet es, Mutter zu sein? Beginnt Muttersein mit dem Gebären oder "wird" eine Mutter zur Mutter? Was ist, schlussendlich, Familie? Und woraus erwächst Identität – aus der Verwurzelung oder der Vereinzelung, dem willenlosen Hineingeborenwerden oder dem separaten Hineinwachsen, aus einem Ist-Zustand oder aus einem kommunikativen Kontext?
Das Kind in "Shoplifters" (Miyu Sasaki), bei dem sich diese und ähnliche Fragen berühren, ist ein süßes, verschwiegenes Mädchen namens Yuri. Yuri wird „entführt“ – zumindest nach gängigem Straftatbestand. In Wahrheit lernt Yuri in ihrer neuen Familie, in ein Leben geworfen zu werden, das ihr zwar viel abverlangt, aber zugleich einlädt, dass sie in ihm wirken kann und als mündiges Subjekt Zeugin ihres "Personwerdens" (Niklas Luhmann) wird. Koreeda spielt, ohne den melodramatischen Unterbau allzu sehr auszubauen, subtil auf Yuris leibliche Eltern an. Dazu genügt eine markante Verbrennung auf Yuris Arm, und dadurch schafft der Filmemacher die Bedingungen für ein pädagogisches Gedankenexperiment: Was wäre, wenn Yuri andernorts jene Liebe und Zuneigung erfährt, die ihr – offenbar – verweigert wurde? Das heißt nicht, dass "Shoplifters" für ein Erziehungskonzept plädiert. Gleichwohl erprobt der Film eine funktionale Vorstellung von Erziehung innerhalb außerschulischer Sozialisationsbedingungen und verpackt es in ein raffiniertes, erlebensreiches Aneignen von Welt.

Dieses assoziative "Aneignen" entwickelt sich vor dem Hintergrund basaler Armut bis in die unweigerliche (dramaturgisch etwas zu bemüht ausgetragene) Katastrophe hinein. Denn "Shoplifters" wird der Tradition eines ungeschminkten, proletarischen Autorenkinos gerecht, das die Verwerfungen der Gegenwart kaum noch magisch verfremdet oder ironisch hinterfragt, um sie zeitkritisch zu kommentieren. Die quasiavantgardistische, umwerfend umschlingende Metropole Tokio schiebt sich in "Shoplifters" zugunsten eines engen, gestauchten Raums beiseite, der von einer zusammengewürfelten "Familienbande" Körper an Körper bewohnt und verwaltet wird. Das Geld ist knapp, die Arbeit spärlich (Reinigung) und entwürdigend (Sex), Entlassungen drohen. Während ein Arbeitsunfall den "Vater des Hauses" (Lily Franky) zeitweise erwerbsunfähig macht, verdient er sich seine Brötchen – unter Mithilfe des ebenfalls spontan aufgelesenen Jungen Shota (Jyo Kairi) – mit taktischen Ablenkungsmanövern vor Supermarktregalen. Gestohlen wird alles, Murmeln, Shampoo, auch Angelruten für den Weiterverkauf.
Nie glorifiziert Koreeda dabei die kriminelle Energie der Beteiligten. Das Stehlen ist ihr eigener innerer Rückzugsort, ein fragiles Gefühl der Gemeinsamkeit lebendig zu halten. Wie "Shoplifters" überhaupt Leben "probiert", geradezu "schmeckt", sorgt dafür, dass die Nudeln (im Sommer: kalte Nudeln!) noch ein wenig leidenschaftlicher gemampft werden als in vielen anderen asiatischen Filmen. Hat man jemals ein fleischlicheres Nudelschlürfen gesehen als in "Shoplifters", eine von Schweiß durchtränktere Sexszene, frostigere Wellen, trüberes Sonnenlicht? Und unter all‘ dem behaglichen Gemeinschaftssinn, den Koreeda evoziert, findet sich ein Mädchen, das zunehmend spricht und zunehmend mehr spricht, sich in einem Badeanzug wohlfühlt und nichtintentional – durch Erproben – lernt. Die Wurzeln der Identität kann Yuri womöglich nicht herausreißen, aber "Shoplifters" liefert einen fundamentalen Beitrag, für den Hillary Frank distanziert beäugt wurde: In Zeiten pluraler Lebens- und Beziehungsverhältnisse, in Zeiten, in denen die Heimat zu einem Aggressor identitätspolitischer Abschirmung mutiert, wird diese Werdenserzählung an das Handeln geknüpft.

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