Als Opfer Auschwitz überlebt zu haben grenzt fast an ein Wunder, doch als Mitglied des sogenannten Sonderkommandos überlebt zu haben, ist mehr als ein solches Wunder. Doch bleibt die Frage, wie sieht ein solches Überleben aus? Abgesehen von den körperlichen Schäden der Auschwitzüberlebenden, sind die die seelischen Schäden ein Ballast, der im Laufe des Lebens als Bürde bleibt, zum einen kommen da die Zweifel mit der Frage einher: „Warum habe gerade ich überlebt?“ Zum anderen ist es die innere Hölle, wenn man die Arbeit des Sonderkommandos machen musste und diese Zeit auch nur annähernd überleben wollte. Zudem galt es nach dem Krieg als ausgemacht, dass von den Männern des Sonderkommandos von Auschwitz keiner überlebte und viele, auch jüdische Überlebende sahen in den Männern des Sonderkommandos ‚Zuarbeiter’ der SS und werteten diese Opfer der Shoah noch einmal ab. In solch einem ‚Klima’ wäre es noch schwieriger gewesen sich zu öffnen, um sich selbst über Gespräche gesunden zu lassen, also zogen sich diese Überlebenden so zurück, mit all ihrem erlebten Leid und den inneren Höllenqualen; so auch Shlomo Dragon, der zusammen mit seinem Bruder Abraham diese Hölle erlebte, durchlitt und überlebte.
Shlomo Dragon wurde am 19. März 1922 in Zuromin in Polen geboren und lebte in seiner Heimatstadt zusammen mit seinen Eltern, sowie seiner Schwester und seinem Bruder vom Schneiderhandwerk des Vaters, das auch Shlomo erlernt hatte. Nach dem Polenfeldzug der Deutschen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Familie Dragon in das Warschauer Ghetto umgesiedelt, doch die Familie wurde getrennt, denn die beiden Brüder Shlomo und Abraham kamen zur Zwangsarbeit in andere Gebiete, bis sie am 6. Dezember 1942 in Auschwitz ankamen, der vorerst letzten Station ihrer Deportationen. In Auschwitz-Birkenau erhielt Shlomo Dragon die Häftlingsnummer 80.359, sein Bruder die Nummer 80.360, beide wurden von Otto Moll für das Sonderkommando ausgewählt, hier nahmen sie ihre Arbeit am 9. Dezember 1942 auf.
Moll leitete in verschiedenen Funktionen das Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau, war für die Leichenverbrennung in den Gruben bei den Bunkern I und II zuständig; und zeichnete sich bei der Behandlung der Häftlinge durch besonderen Sadismus aus, der ihm den Beinamen ‚Henker von Auschwitz’ eintrug. Die Häftlinge des Sonderkommandos gaben ihm den Namen ‚Malahamoves’, das hebräische Wort für Todesengel.
Nachdem der 20jährige Shlomo begriffen hatte, dass er in einer menschlichen Tötungsmaschinerie gelandet war und welche Aufgabe er darin hatte, wollte er selbst aus dem Leben scheiden. Eine Glasscherbe hatte er sich bereits besorgt, um sich die Pulsadern aufzuschneiden. Vorher sprach er noch mit dem jüdischen Kapo des Sonderkommandos, damit dieser seinem Bruder erklären soll, warum er in dieser Situation nicht weiterleben wollte. Doch der Kapo überredete ihn weiterzuleben, der SS gegenüber keine Schwäche einzugestehen und vor allen Dingen als Zeuge für die Nachwelt bereit zu sein, vom innersten Teil der Hölle von Auschwitz zu berichten, auch sollte er seinen Bruden nicht allein zurück lassen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Eltern und seine Schwester je wieder sehen würde war sehr gering. Shlomo Dragon ließ von seinem Vorhaben ab, doch konnte er sich kaum vorstellen, dass die Menschen außerhalb der Stacheldrähte des Vernichtungslagers ihm glauben würden, wenn er von den Zuständen der Tötungsmaschinerie berichten würde, denn obwohl er tagtäglich dort arbeitete, konnte er selbst kaum fassen, was er sah und erleben musste.
Obwohl den Männern des Sonderkommandos eine bessere Versorgung zu Teil wurde und sie in den zwei für sie besonders abgeschirmten Baracken auf Strohsäcken schliefen, wurde der seelische Zustand Shlomos immer schlechter, der Kapo setzte ihn zum Stubendienst ein, um ihn für einige Zeit zu stabilisieren, doch durch einen ganz anderen Umstand kam wieder Lebenswille in den jungen Mann, als er sich der Widerstandsgruppe innerhalb des Sonderkommandos anschloss. Diese plante einen Aufstand, der die Sprengung der Vergasungsanlagen vorsah, um dem industriellen Massenmord ein Ende zu setzen. Shlomo selbst war für die selbstgebauten Handgranaten zuständig, deren Material andere über polnische Häftlinge in das Lager des Sonderkommandos geschmuggelt hatten. Dieser geplante Aufstand, der mehrmals verschoben wurde, gab ihm wieder eine ‚Perspektive’, wenn auch eine kleine. An dem Aufstand des Sonderkommandos vom 7. Oktober 1944 war Shlomo beteiligt, genauso wie sein Bruder Abraham. Dieser wurde brutal von der SS niedergeschlagen, 451 Häftlinge wurden erschossen, Shlomo überlebte, weil er sich während dieser ‚Aktion’ versteckt gehalten hatte. Die nachfolgende Untersuchung der SS zu diesem Aufstand führte ins Leere, da keiner der Kameraden die anderen verriet. Doch nicht nur dieser Aufstand machte die SS nervös, sondern auch der Umstand, dass die Rote Armee immer weiter vorrückte, so wurden ab Oktober die Krematorien demontiert, an diesen Arbeiten war auch Shlomo beteiligt. Nach der Evakuierung des Lagers Auschwitz und während der Deportation der Häftlinge gen Westen, konnte Shlomo Dragon mit seinem Mithäftling des Sonderkommandos, Henryk Tauber, auf dem Todesmarsch noch innerhalb Polens fliehen. Als er in Sicherheit war, meldete er sich gleich bei einer sowjetischen Untersuchungskommission als Augenzeuge, er zeigte den Männern der Untersuchungskommission, wo Angehörige des Sonderkommandos ihre ‚geheimen Handschriften’ und Zeichnungen vergraben hatten und im Mai 1945 gab er seine Erlebnisse vor einer polnischen Untersuchungskommission zu Protokoll. Danach wandte sich Shlomo Dragon gen Westen, um nach seiner Familie zu suchen und nach seinem Bruder. Keiner seiner Angehörigen hatte überlebt, erst in Zeilsheim bei Frankfurt am Main fand er seinen Bruder Abraham wieder. Im Lager der Amerikaner für die Überlebenden der Shoah gesundete er, körperlich; seelisch vergrub er seine Erlebnisse tief in sich selbst. Die Brüder ließen sich für ein paar Jahre in Frankfurt nieder, Shlomo arbeitete als Schmuckhändler, Abraham fand eine Stelle in einem Büro; doch beiden war bewusst, dass das nur eine Übergangszeit sein würde, sie wollten nach Israel auswandern um eine wirkliche Heimat zu finden. Ein Jahr nach der Gründung des Staates Israel hatten sie alle Papiere zusammen und mit ihrem ersparten Geld gingen sie in ihr gelobtes Land. Shlomo und Abraham Dragon blieben Zeit ihres Lebens zusammen, auch als Abraham heiratete blieb Shlomo bei ihnen; Shlomo selbst heiratete nie. Nie äußersten sie sich über ihre Erlebnisse in Auschwitz, denn in den 50er und 60er Jahren gab es eine Tendenz, die Männer des Sonderkommandos als ‚Mittäter’ zu sehen, ja manche verstiegen sich sogar so weit, auch diese Opfer der Shoah als ‚Mörder’ zu bezeichnen; also kein Klima für Shlomo seine Trauma aufzuarbeiten.
Erst im Jahre 1993 kehrten er, sein Bruder und einige andere ehemaligen Häftlinge des Sonderkommandos, gemeinsam mit dem Historiker Gideon Greif, nach Auschwitz zurück. Hier gaben sie ihre Erlebnisse noch einmal zu Protokoll, diesmal für das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zur Dokumentation. Im Rahmen einer Buchveröffentlichung sagte Shlomo Dragon: „Wir haben das Blut nicht vergossen. Das taten die Deutschen … Sie zwangen uns, den Sonderkommandos beizutreten. Die Tatsache, dass wir gezwungen wurden, schreckliche Arbeit zu tun, ändert nichts an der Tatsache, dass wir die Opfer und nicht die Ungeheuer waren.“
Im Oktober 2001 verstarb Shlomo Dragon nach langer Krankheit in Ramat Gan, das ihm zur Heimat geworden war.
Weiterlesen:
➼ Das Sonderkommando Auschwitz-Birkenau
➼ Der Aufstand des Sonderkommandos von Auschwitz
➼ David Olère • Augen-Zeuge & Künstler
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➼ Adolf Hitlers ‚gläubiger’ Antisemitismus