Sherlock, ein typischer Viktorianer?

Von Davidgray300 @davidgray300

Es geht weiter voran mit Sherlock Holmes Teil Nummer Zwei, der Sherlock und Watson in einem Fall sieht, der düsterer und komplexer gestaltet ist, als ihre Abenteuer im Ersten Teil von „Sherlock Holmes – Eine Studie in Angst“ Zunächst einmal bekommt Watson in Teil Zwei Grund an Mycroft Holmes Aufrichtigkeit zu zweifeln, als ihm bewusst wird, dass Holmes Bruder offenbar um die wahre Identität Jack the Rippers weiß, der Horrorgestalt des Viktorianischen Zeitalters schlechthin. 
 

Jack the Ripper, der wie ein böser Geist über London schwebt, zeitgenössische Illustration aus dem Unterhaltungs-Magazin "Punch"


Doch auch wenn der Ripper im Hintergrund der Geschichte stets präsent ist, macht Sherlock seinem Freund Watson und dem Inspektor Lestradeschnell klar, dass sie es bei ihrem neuesten Fall nicht mit dem Original Ripper zu tun haben können, sondern womöglich gleich an eine Gang von Mördern geraten sind. 

Weitere prominente Themen in dem neuen Roman sind Herzen, die in Teekesseln gekocht werden, in Blut verfasste Gedichte an der Wand eines verlassenen Hauses und eine mysteriöse junge Dame, die von ihrem Mörder offenbar mit seidenen Leichenhemden bedacht wurde. Überhaupt spielen Friedhöfe eine große Rolle in dem Buch.  Das hat seinen Grund in der viktorianischen Realität. Damals war man nämlich ganz allgemein, „absolut fasziniert vom Tod und den Riten, die man um ihn herum gesponnen hatte, während man zugleich entsetzt und besessen von der Vorstellung war, möglicherweise lebendig begraben zu werden.“ Das meint zumindest die Historikerin und Viktorianer Expertin Catherine Arnold in ihrem interessanten Buch „Necropolis – London and ist Dead“. Auf dem Höhepunkt des viktorianischen Zeitalters  wurden sogar verschiedene Mechaniken patentiert, die es einem aus Versehen lebendig begrabenem erlaubten aus seinem Sarg heraus über Glockengeklingel oder – Hightech als Viktorianisch! – eine Gaslampe Lebenszeichen von sich zu geben. Überhaupt ist es ganz interessant einmal einen etwas genaueren Blick auf die Vorlieben und Ängste von Sherlocks realen Zeitgenossen  zu werfen. 
 

Die Viktorianer waren fasziniert vom technischen Fortschritt, den ihr Zeitalter mit sich brachte. Kein Wunder also, dass ihre Bahnhöfe an Paläste erinnerten ...


Wovon man – abgesehen von Friedhöfen und Toten -  im London gegen Ende des 19. Jahrhunderts fasziniert war, waren in etwa in dieser Reihenfolge: die Gefahren von vorehelichem Sex und Alkohol für junge Damen, die USA, der Wilde Westen und mögliche anarchistische Terrorplots. Auch wenn – dem Krimigenre geschuldet – wirklich unschuldige (im sexuellen Sinne) junge Damen eher in „short  supply„ in Herrn Grays Sherlock Nummer Zwei sind, spielen Leichen, Friedhöfe, Amerikaner, der Wilde Westen, Alkohol und vorehelicher Sex durchaus größere Rollen darin. 

Die Heilsarmeezum Beispiel, wurde zu dem, was sie heute ist, vor allem durch ihre erbittert geführten Kampagnen gegen den übermäßigen Alkverbrauch der Arbeiter und kleinen Angestellten in den Industriemetropolen. 

Ein Poster der Heilsarmee vom Beginn des 20. Jahrhunderts, der Stil dieses Bilds unterscheidet sich kaum von dem seiner Vorgänger im späten 19. Jahrhundert

Das bevorzugte Gift der unteren Klassen war seinerzeit billiger Gin, der wesentlich rascher wirkte, als das übliche ziemlich dünn gebraute Bier. Der Ginverbrauch muss, vorsichtigen Schätzungen von Historikern zufolge, tatsächlich enorm gewesen sein: Etwa 130 Liter pro Kopf und Jahr für Frauen und fast das Doppelte für Männer. Um das ganz klarzustellen, wir reden hier von Gin, der locker um die 25 bis 32 Prozentanteile Alkohol hatte. 

Der Stoff war so billig herzustellen und überall zu haben, er bot für Arbeiter, Tagelöhner und kleine Angestellte die günstigste und am weitesten verbreitetste Fluchtmöglichkeit aus ihrem tristen Alltag. Ein wenig an allgemeiner Statistik gefällig? 
Im Londoner Eastend, dem damals am dichtesten besiedelten Ort der Welt, lebten durchschnittlich drei Leute auf zwei Quadratmetern!Die Zustände in den Slumvierteln Londons, Liverpools, Glasgows, Leeds, Yorks und Edinburghs an einem Freitagabend auf dem Höhepunkt des viktorianischen Zeitalters glichen offenbar dem, was wir heute zum Ausnahmezustand erklären würden. 
 

William Hogarths Bild zeigt die Auswirkungen des Ginkonsums auf die armen Klassen Mitte des 18. Jahrhunderts, doch bis zum späten 19. Jahrhundert blieb Gin - überhaupt Alkohol - das beliebteste Rauschmittel in den Slums. Mit den daraus zu erwartenden Folgen. 


Bis fast zur Besinnungslosigkeit (und darüber hinaus!) betrunkene Männer und Frauen säumten die Straßenränder. Um die Kneipen herum, fielen Betrunkene übereinander und umeinander aus den Türen. Und eher früher als später ergaben sich  us den nichtigsten Anlässen heraus irgendwo in den Slums regelmäßig wilde Straßenschlachten, bei denen neben Ziegeln, Pflastersteinen und Bauhölzern auch schon mal Metzgerbeile, Hämmer, Spitzhacken, Spaten und Schaufeln zum Einsatz kamen. Übrigens fasste ein Ginglas der Viktorianer ungefähr dieselbe Mengen an Flüssigkeit wie eine heute gebräuchliche Coca-Cola-Dose. Mit anderen Worten ungefähr das Vierfache eines heutigen Doppelten Schnapses. Man darf vermuten, dass die chronisch unterernährte Arbeitermassen in den Slumvierteln daher nicht viele dieser Gingläser brauchte, um sich temporär in Besinnungslosigkeit oder rein wortwörtlich „um den Verstand“ zu saufen. Als man das Arbeitsfähige Alter von Kindern 1833 gesetzlich auf mindestens 9 Jahre festlegte wurde das als große Errungenschaft moderner liberaler und humanitärer Ideen gefeiert.


Im krassen Gegensatz zu den Verhältnissen und Ritualen der Bewohner der Slumviertel standen die typischen Vergnügungen der Mittel- und Oberklassen. 
Diese Glücklichen tummelten sich in hell beleuchteten Theatern, Music-Halls und Salons, wo man Geschäfte anbahnte, Konversation pflegte, die neuesten Kunstwerke bewunderte, oder – total beliebt auch damals – gemeinsam die Klatschspalten der vielen verschiedenen Magazine, Tages – und Wochenzeitungen durchhechelte.

In Abwesenheit von Radio, Kino und TV boten Zeitungen und Romane die gebräuchlichste Form der Abwechslung.  Beliebt war, was man heute als Romantic-ChickLit bezeichnen würde, wobei Sex selbstverständlich stets nur angedeutet wurde. 
Als der erste wirkliche (und immer noch brillante) Horrorroman „Jekyll & Hyde“ erschien, zum Bestseller wurde und kurz darauf auch im Westend als Theaterstück aufgeführt wurde, pflegten während den Vorstellungen so viele junge Damen in Ohnmacht zu fallen, dass man dies zum Anlass nahm den Zeitungen ausdrücklich vor dieser Nebenwirkungen zu warnen und künftige Theatergänger anwies, doch keinesfalls das Riechsalz zu hause zu lassen. (Riechsalzproduzenten müssen Robert Louis Stevenson, den Autor von „Jekyll & Hyde“ damals heftig in ihre Herzen geschlossen haben, nehme ich an). 

Doch das wahre Top-Entertainment welches alle viktorianischen Klassen und Schichten zusammenbrachte waren die Kriminalprozesse im Old Bailey.   Noch in seinem 1945/ 46 verfasstem Essay „The Decline of the English Murder – der Niedergang des Mordes in England“ träumt sich kein anderer als George Orwell (1984) ironisch ins Viktorianische Zeitalter und dessen Faszination mit einem guten unterhaltsamen Mordprozess zurück. Und Charles Dickens Leserzuschrift an die Times über die Ausgelassenheit und freudige Erwartung der Zuschauermassen während der öffentlichen Hinrichtung der Mörderin Marie Manning und ihres Ehemannes und Komplizen, liest sich für uns heute, trotz Dickens moralischer Entrüstung,  eher wie die Anfangsszene einer Horrorstory. (Wobei man allerdings erwähnen sollte, dass selbst der abgebrühteste Viktorianer entsetzt wäre über die in irgendeinem harmlosen Vorabendfernsehkrimi gezeigte Gewalt.)
 

Zuschauer während Marie Mannings Hinrichtung, deren Ausgelassenheit und Blutdurst  den berühmten Autor Charles Dickens zu einem Leserbrief an die Times anregt...

Dickens nicht weniger berühmter Kollege Orwell war es auch, der die original Sherlock Holmes als „good bad books – gute schlechte Bücher“ bezeichnete, also als Storys und Romane einordnete, die gerade obwohl sie im rein literarischen Sinne keine Meisterwerke darstellen, dennoch so gut und unterhaltsam gestaltet waren, dass man sie immer und immer wieder mit Vergnügen lesen kann. Mister Eric Arthur Blair (aka George Orwell) bedauerte im selben Atemzug auch, dass in seinem 20. Jahrhundert solche „good bad books“ offensichtlich nicht mehr verfasst worden. (Man darf sich fragen, zu welcher Meinung Mister Blair über das Twilight Phänomen oder gar – OMG! – E. L. James Pornobestsellern gelangt wäre.  Obwohl er andererseits – als Public School Boy – sicherlich Gefallen an Harry Potter gefunden hätte. Und auch Old Mister Charles Dickens, immerhin Verfasser von „David Copperfield“ und „Great Expectations“, hätte zweifellos einiges seiner eigenen Werke in Hogwarts und dessen berühmtesten Zauberlehrling wieder gefunden.)Überraschend für all die Millionen von Lesefans in den Weiten des Interwebs könnte allerdings sein, dass der (neben Sherlock, Watson und Jack dem Ripper) heute berühmteste Viktorianer Graf Dracula, seinen eigentlichen Siegeszug in die Herzen des Publikums erst kurz nach dem Ende der klassischen Viktorianischen Ära antrat. So richtig berühmt und beliebt wurde er nämlich nicht vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Und ins Bewusstsein eines regelrechten Millionenpublikums schlich er sich nur durch die tatkräftige Nachhilfe des gebürtigen Ungarn Bela Lugosi, der ihn in den 1930er Jahren in zahlreichen Hollywoodstreifen verkörperte.    
 

Wie Jack the Ripper, der reale Alptraum der Viktorianer, ist sein fiktives Gegenstück Dracula auch im 21 Jahrhundert noch lebendig und beliebt, wie dieses Webposter für eine neue BBC -TV Produktion beweist ...

Bei allen Widersprüchen und Absonderheiten, die die Viktorianische Ära für uns heute beinhaltet, existieren doch auch einige erstaunliche Parallelen zwischen Sherlocks Zeitalter und dem unseren. Da verfasste ein besorgter Uniprofessor 1892 zum Beispiel ein 230 Druckseiten langes Pamphlet, in dem er vor den unerhörten Gefahren des Telefons für leicht zu beeinflussende junge Damen warnte, die mit Hilfe dieser neuesten Erfindung  unkontrolliert von ihren Eltern in direkten  Kontakt mit jungen Männern treten konnten. Höchst gefährlich – fürwahr! Erinnert das nicht ein wenig an die aktuell gerade tobende Debatte über die vermeintlich unübersehbaren Gefahren von Internetporn für Teenager? Und was ist mit dem Frauenwahlrecht, das die Gemüter der Viktorianer heftig erregte? Hat deren Aufregung darüber, nicht zumindest eine ungefähre Ähnlichkeit mit dem erbitterten Streit über Abtreibung, der gerade wieder einmal in den USA stattfindet? Und, da wir ihn hier schon einige Male als Zeugen heranzogen, wie steht’s mit Charles Dickens jahrelangem  Kampf um das weltweite Copyright, den er vor allem in den USA führte, weil man dort seine (und nicht nur seine!) Bücher frisch fromm fröhlich frei in Millionenfacher Auflage als Raubdrucke verkaufte, von deren Verkaufserlösen der Verfasser natürlich keinen Cent sah! Fühlt sich da noch wer an den Urheberrechtsstreit von 2012 und die Internetaktionen gegen den US- Gesetzesentwurf SOPA erinnert? Und was ist mit dem Phänomen des Binge Trinkens, das sogar in den Parlamenten diskutiert wurde? Soll es so gar keine Gemeinsamkeit mit den bevorzugten Vergnügungen der viktorianischen Arbeiterklasse aufweisen?  Viele  kluge - und jede Menge weniger kluge – Kollegen von Herrn Gray haben bereits literweise Tinte über die Frage verbraucht, was Sherlock Holmes und seinen Sidekick Watson so nachhaltig beliebt beim Lesepublikum macht. Ich für meinen Teil bin sicher dass es nicht nur eine gewisse Nostalgie, die meisterhaft gehandhabten Plots und Rätsel der Geschichten und Romane und Arthur Conan Doyles knapper Schreibstil sind, die den Meisterdetektiv zu seiner nachhaltigen Beliebtheit bis ins 21. Jahrhundert hinein verhalfen, sondern auch all die unterschwelligen Ähnlichkeiten mit seinem Zeitalter und dem unseren.
Es existieren allerdings auch einige ebenso überraschende Unterschiede zwischen den beiden Zeitaltern. So war die Mordrate der Viktorianischen Ära wohl etwas geringer, als heute. Ein Umstand, den Sherlock und den Doktor  sicherlich mit Genugtuung zur Kenntnis genommen hätten….