Das Sharnga Guest House ist eines von vielen guest houses in Auroville – und nicht einmal das aussergewöhnlichste. Wer für kürzere oder längere Zeit als Gast in Auroville bleiben möchten, kann je nach Budget und Ansprüchen zwischen ganz unterschiedlichen Angeboten wählen: von der einfachen Baumhütte – die für mich aus naheliegenden Gründen nicht in Frage kommen – bis zum gediegenen Bungalow in einem japanischen Garten mit sorgfältig angelegten Wasserläufen und Teichen voller Lotusblumen. Mit dem Rollstuhl zugänglich sind allerdings nur wenige, und die eher per Zufall denn mit Absicht – so wie das Sharnga Guest House.
Geschichtliches
Dieses war ursprünglich eine Pferderanch, gegründet von zwei Franzosen im Jahr 1976 als Teil von Auroville. Das Gestüt umfasste bis zu vierzig Pferde. Zu jener Zeit war das Gebiet weitgehend öd und unbewaldet. Einzelne Palmen wuchsen zwar in den Himmel. Doch die Sonne verbrannte die Erde, der Monsun wusch sie aus und spülte sie ins nahe Meer.
Zunächst wurden Bäume gepflanzt, Hunderttausende auf dem Gebiet von ganz Auroville. Langsam wuchs ein Wald heran, der inzwischen den Boden vor der brennenden Sonne schützt. Gezielt wurden und werden noch Rückhaltebecken angelegt, die das viel Wasser während der Monsunzeit sammeln, so dass es bis weit in den Sommer zur Verfügung steht. Auf diese Weise wird auch das Grundwasser angereichert; der Spiegel steigt.
In einem dieser Häuschen, Room Nr. 4, bin ich nun das vierte Mal zuhause. Es besteht aus zwei Räumen und hat im Gegensatz zu den meisten anderen Unterkünften im Sharnga eine eigene Dusche mit WC. Die Fenster sind vergittert und mit moskitosicherem Maschendraht bespannt, so dass die Räume von allen Seiten gut durchlüftet sind – und jedes Geräusch ungehindert eindringen kann. Besonders bei Tagesanbruch um 6 Uhr komme ich so in den ungeschmälerten Genuss eines Vogelkonzerts der besonderen Art. Nicht sanftes, melodiöses Gezwitscher ist es, das mein Herz zu erfreuen sucht, sondern charakterstarke Stimmen wie jene des Pfaus und eines nicht minder aufdringlichen Unbekannten, dessen «Gesang» ganz besonderer Art ist: Ein in die Höhe sich aufschwingendes und sogleich wieder abfallendes «Dau-dau-dau-dau …» wird abgelöst von einem aufsteigend wiederholten «Pa-pau, Pa-pau, Pa-pau». (Es ist gar nicht so einfach, eine Vogelstimme treffend zu beschreiben.) Je nach Tagesform des Unbekannten wird dieser Ruf mit mehr oder weniger Inbrunst in die Welt hinausposaunt. Beide Stimmen, der Pfau und der Unbekannte sowie ein paar weitere morgendliche Enthusiasten platzen ungefragt mitten in meine Träume. Inzwischen allerdings brauche ich diesen Weckruf wie andere den Morgenkaffee, damit der Tag auch gut aufgegleist ist und keine Stunde zuviel mit Schlafen vertan wird.
Blick auf den Eingang meines Häuschens …
… und vom Eingang aus.
Für Schweizer Verhältnisse ist der Zimmerpreis moderat bis günstig, zumal Frühstück und Abendessen sowie die Zimmerreinigung und meine Wäsche darin enthalten sind. Während das Frühstück individuell eingenommen wird, ist das Abendessen jeweils ein soziales Unterfangen und je nach Tagesform – der Gäste ebenso wie meiner selbst – ein belebendes Gemeinschaftserlebnis oder dann eine Art gesellschaftlicher Spiessrutenlauf. In immer wieder wechselnder Zusammensetzung ist beim Abendessen die halbe Welt versammelt: ein älteres Ehepaar aus Frankreich übt sich mit einer jungen Familie aus Gujarat, einem italienischen Anthropologen, zwei belgischen Studenten, einem älteren ehemaligen Architekten aus Dänemark, einer holländischen jungen Ayurvedastudentin und einem Schweizer – mit mir – in globalisiertem Smalltalk, der vom Englischen ins Französische wechselt und mit deutschen und italienischen Zwischenrufen durchsetzt ist. Nicht immer gelingt es uns, über den Smalltalk hinaus zu gelangen. Doch wenn es gelingt, kommt es nicht selten zu offenen und intensiven Gesprächen. Denn für viele ist Auroville eine wichtige Station auf ihrem Lebensweg, für manche eine tiefe Erfahrung: Die Holländerin besucht täglich Yogaklassen, der ehemalige Architekt möchte das Experiment Auroville näher kennenlernen, insbesondere dessen Organisationsform und die wirschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Anthropologe, der Zen-Meditation praktiziert, geht wenn immer möglich in den Matrimandir ((Link)), um zu meditieren. Die beiden belgischen Studenten möchten mehr über die Wiederaufforstung in tropischen Gebieten erfahren und sind täglich mit Fachleuten aus Auroville unterwegs. Die junge Familie schliesslich ist hier, um sich klar zu werden, ob sie sich in Auroville niederlassen möchte. Nur das französische Ehepaar ist zum reinen Vergnügen hier an diesem schönen, angenehmen Ort in Indien – India light eben. Und ich? Weshalb komme ich immer wieder zurück nach Südindien, nach Auroville, ins Sharnga Guest House? Dazu ein anderes Mal mehr.
Das also ist Sharnga Guest House: eine einfache Unterkunft mit Charme und Geschichte, etwas heruntergekommen zwar, aber nicht schmutzig, ein Sehnsuchtsort, wo sich bis auf weiteres die halbe Welt trifft, wenn er nicht bald von all den Schlingpflanzen, Lianen und Würgefeigen verschlungen worden ist.