Serien: "Lost" [USA 2004-2010]

Von Timo K.

Sehen wir davon ab, dass "Lost" im Finale tatsächlich die große, geheimnisvolle Antwort auf die größte, auf die geheimnisvollste aller Fragen in einer humanistischen Religionsallegorie gibt, nämlich wohin diese Serie steuern, was sie uns mitteilen, womit und weshalb sie unsere Gegenwart und Zukunft reflektieren will: Wer "Lost" ernsthaft in dem Bestreben anschaut, jemals alles auf dem Präsentierteller vorgesetzt zu bekommen, dessen kausaler Zusammenhang sich nicht sofort erschließt, der hat weder die Mythologie der Serie, das ihr zugrundeliegende Konzept noch die Intention ihrer Schöpfer verstanden. 
Es ist zunächst ein gewagter Vergleich, aber "Lost" hat einiges mit "Twin Peaks" gemein. Denn beide, obschon sie unterschiedlich wirtschaften – die eine aus dem Drehbuch heraus, die andere mit assoziativen Codes – und in ihren eigenen Quellcode-Universen wiederum eine eigene verschlüsselte Programmiersprache herauszufiltern gedachten (wahrscheinlich die eine mehr als die andere), verdichten sie ihre Geschichte nach einer ähnlichen Maxime. Das Irrationale – also da die Insel, dort die Hütten – fungiert vielmehr als handlungsvorantreibender MacGuffin, um zuallererst Menschen zu porträtieren. Ist es dann so überaus überraschend, dass das Irrationale im Fall von "Lost" irrational bleibt und die Menschen bis zuletzt in den Mittelpunkt drängen?
"Lost" hausiert seit jeher als Charakterserie, nicht als Kreuzworträtselserie mit den Auflösungen auf der nächsten Seite, Ecke rechts unten. Wenn wir das wollen, gucken wir andere Serien, aber wenn wir "Lost" gucken, gucken wir etwas von zerrütteten Menschen, die anhand befremdlicher Ereignisse nie wieder diejenigen sein werden, die sie vorher waren. Nichts anderes wird thematisiert. Nicht dass sich einer beim Geschenke aufreißen über den Inhalt nachher ärgert. Stellvertretend dazu das letzte dichterische Bild dieser Serie. 
Da liegt er nun, Dr. Jack Shephard (Matthew Fox), blutend, erschöpft, halbtot, sein Auge schließt sich, das finale, das ikonische Augensymbol; er ist im Begriff zu sterben, während er im zweiten Erzählstrang auf dem Flughafen des Fegefeuers darauf wartet, abzufliegen und nicht abzustürzen – hier spiegelt "Lost" seine Anfänge und stellt der allerersten Szene der allerersten Folge der allerersten Minuten eine nahezu identische gegenüber, klammert sie ebenso narrativ wie staffelübergreifend. Und eins wird ganz deutlich: Die Bestimmung dieser Serie liegt in ihrer warmherzigen Jack-Figur, die auf der einen Seite zum Glauben konvertiert und auf der anderen zu einer wunderbaren Erkenntnis gelangt. Unter dem Sinn des Lebens verstehe man auch die Poesie von der Kraft der Erinnerung dank der intimen Berührung eines geliebten Menschen, den zu vergessen man sich nicht leisten darf.

Darüber hinaus eine Serie, angesichts ihrer regen virtuellen Zuschauerbeteiligung vermutlich die erste wirkliche Web-2.0-Serie, die spielerisch mit ihrem prallgefüllten Sammelsurium an intertextuellen Verweisketten umgeht, erzählerisch zwischen den Welten experimentiert, Glaube und Wissenschaft, Spiritualität und Rationalität, Rache und Vergebung argumentativ unterfüttert und very meta zum Schmunzeln animiert, sodass sich "Lost" stets im selben Glauben festhielt wie seine Protagonisten, sich immer wieder weiter entwickeln zu müssen. 
Die außergewöhnlichen Augenblicke eingeschlossen. Man erinnere sich an Desmonds (Henry Ian Cusick) Einführung per Plansequenz zu Beginn der zweiten Staffel, an Dr. Juliet Burks' (Elizabeth Mitchell) per Cliffhanger zu Beginn der dritten sowie der Einführung jener Vorausblenden, die dem dritten Staffelfinale dem unvorbereiteten Zuschauer rotzfrech ins Gesicht spucken. Oder an die Momente, in denen Metagags kaum pointierter erzwungen worden waren, so als Hugo "Hurley" Reyes (Jorge Garcia) im Jahr 1977 ein modifiziertes Script George Lucas' in der Planung steckendem Sequel zum Sternenkrieg schreibt. Oder an die immens makabren, an die verteufelt spitzzüngigen, wenn Nikki und Paulo (Kiele Sanchez, Rodrigo Santoro) lebendig begraben werden, um sie, die ja sowieso die Rolle der Gaststars übernommen haben, möglichst sarkastisch abkratzen zu lassen.
Jede Staffel bietet für sich unerschöpflich gescheite Abwechslung, weil unsere authentischen Figuren über 120 Episoden lang durch Zeitreiseparodoxien, Robinson-Crusoe-Szenarien, Raum-Zeit-Gefüge, Rauchmonster, ägyptisch-buddhistische Metaphorik und persönliche Niederschläge, ebenso wie Sonnenstrahlen watschen müssen, hin zum Glück, hin zum Leid, hin zum Paukenschlag, hin zum "Lost"-Schriftzug, dem berühmt-berüchtigten. 
Logisch, dass vielleicht die eine popkulturelle Referenz zu redundant bedient wird, dass vielleicht nicht alles stimmig auserzählt wird (Henry Gale, dazu die DHARMA-Zeit Mitte vierter Staffel sowie der Tempel in der sechsten), dass vielleicht gar ein, zwei, drei Verschachtelungen zur Überkonstruktion neigen. Trotz alledem ist "Lost" intensiv und fiebrig und verdammt verschwurbelt, verschwurbelt, aber faszinierend verschwurbelt. 
Man könnte "Lost" ungefähr so zusammenfassen: "Wir sind nicht tot, aber Teil einer Gemeinschaft, die sich aufeinander verlässt, und wir hatten eine unglaubliche, erinnerungswürdige Erfahrung mit lauter Fremden." 
8 | 10

Staffelbewertungen: S01 - 9.5 | 10     S02 - 7.5 | 10     S03 - 8.5 | 10     
   S04 - 6.5 | 10     S05 - 7.0 | 10     S06 - 6.5 | 10