Seltsame, schwankende Zeit! Bis ins Existenzielle wird vieles in Frage gestellt. Es wanken sicher geglaubte Eckpfeiler meines Lebens. Gleichzeitig spitzt sich die Bereitschaft zu, Neues zu wagen. Doch die Verunsicherung ist gross. Und viel deutlicher als der Weg, der vor mir liegt, ist mein Widerwille gegen das Bestehende. Wenn das nur gut geht!
Trotzdem bin ich zuweilen guter Dinge – und mir durchaus bewusst, wie frei ich tatsächlich bin. Wenn ich nur mehr daraus machen könnte! Ich bin so frei wie nie: wirtschaftlich gesichert, wie es in diesen Zeiten nur sein kann – auf bescheidenem Niveau, ja, aber ohne Existenznöte; hinzu kommt ein Rucksack voller Erfahrungen und Fähigkeiten, von denen einige sogar so etwas wie einen Marktwert haben; hinzu kommt zudem eine gewisse Abgebrühtheit – oder ist es Resignation? – gegenüber dem Tod – ja, gegenüber dem Tod. Er hat längst für mich seinen Schrecken veloren. Und schliesslich sind da auch ein paar Sehnsüchte, die ich abgehakt habe und denen ich deshalb nicht mehr nachzurennen brauche.
Von diesem Nullpunkt aus – oder ist es ein Punkt ohne Wiederkehr, ein point of no return? – kann also das Leben neu beginnen. Ich habe Lust drauf. Denn der Nullpunkt ist zugleich ein Höhepunkt, von dem aus ich auf mein Leben blicke wie auf eine Landschaft, die sich langsam vom Morgennebel befreit. Hier kommt ein hübscher Hügel zum Vorschein, da ein schroffer Felsen. Taunasse Wiesen und dampfende Äcker zeigen sich dem frühen Licht. Nur die Schluchten und Abgründe sind noch im Nebel verborgen. Doch auch die werden sichtbar werden. Willkommen, neuer Tag! An dir will ich verbrennen.
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Bild: Morgennebel von matthiashn, via flickr, CC-Lizenz
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