Selfmade-Chaoten

Von Alexander Steinfeldt

In Albanien liegt die Zustimmung für die EU bei Traumwerten von über 80%. Trotzdem ist der Beitrittsprozess schon seit einiger Zeit ins Stocken geraten. Die politische Klasse schafft es nicht, den Willen der Gesellschaft in die politische Realität zu übertragen. Dass sich daran etwas nach den Parlamentswahlen am 23. Juni ändern wird, bezweifeln die meisten. 

Verkehrschaos und Kabelsalat in Albaniens Hauptstadt Tirana. Quelle: Alexander Steinfeldt

Seit 1991 hält das Land, gelegen zwischen der Adria, Griechenland und den ehemals jugoslawischen Staaten, Montenegro, Kosovo und Mazedonien, freie Wahlen ab. In einem faktischen Zwei-Parteien-System mit sozialdemokratischen Ex-Kommunisten auf der linken und konservativen Volksdemokraten auf der rechten Seite halten sich die Wahlmöglichkeiten aber in Grenzen. Besonders wenn diese nach einer gewonnenen Wahl in einer „The Winner Takes It All“-Mentalität keinen Platz für Pluralität lassen.

Unter dem Diktator Enver Hoxha wurde Albanien nach dem Zweiten Weltkrieg zum Nordkorea Europas. Vollkommen isoliert von sowohl den Blockmächten in Ost und West als auch von dem Vielvölkerstaat Jugoslawien verschanzte sich das Land in seine Bunker – knapp 750.000 davon verschandeln noch heute Albaniens Landschaft. Als in vordemokratischer Zeit der kommunistische Diktator an Tischen in T-Form saß, hatten die Parteimitglieder an der langen Tafel folgsam zu klatschen, wenn der Führer sprach. In- und ausländische Experten bestätigen zwar, dass man heute an runden Tischen sitzt. An den Führungsanspruch der politischen Klasse zweifelt jedoch niemand aus der Parteien.

Schizophrenie des Alltags

Debatten und Meinungsbildung finden in den etablierten Parteien kaum statt. Deshalb wenden sich auch immer mehr junge Menschen von denen ab. Doch sehen sie auch kaum Alternativen. Bei vielen Jobs wird – wenn auch nicht offiziell – eine bestimmte Parteimitgliedschaft nötig. Genau hier wird deutlich, dass sich die Albaner noch nicht von ihren alten Strukturen trennen können. Ein Großteil der politischen Klasse wurde nahtlos aus der ehemaligen Einheitspartei vor 1991 übernommen, und das vom rechtmäßigen Nachfolger, der Sozialistischen Partei, als auch vom politischen Gegner, der Demokratischen Partei.

Diese Schizophrenie setzt sich auch im alltäglichen Leben Albaniens fort. Die Gesetz werden soweit möglich als unwichtig erachtet und ignoriert. Neben kleineren Delikten und Alltagskorruption wird dies vor allem im Straßenverkehr deutlich. Der nicht übermäßig starke Verkehr in der Hauptstadt Tirana versinkt tagsüber im Chaos. Polizisten regeln trotz funktionierender Ampeln mit Kellen die Verkehrsströme, Autos parken in erster und zweiter Reihe unkontrolliert auf den Fahrbahnen, Fußgänger schlängeln sich an den Autos vorbei. Dabei mangelt es allerdings nicht an einer Straßenverkehrsordnung, nur an der Einhaltung dieser. Der Unterschied zwischen dem Geschrieben und der Realität ist riesig.

Selbst verschuldetes Chaos und ungenutztes Potenzial

Die Liste dieses Chaos lässt sich weiter fortführen. Unkontrollierter Wohnungsbau auf dem Land, unbezwingbarer Kabelsalat an den Strommasten in der Stadt und ein Grünen-Politiker, der erneuerbare Energien in Albanien propagiert, selbst aber Unternehmer in der Erdölförderung ist. Der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tirana Frank Hantke fasste es in einem Satz zusammen: „Der Albaner verursacht sein Chaos selbst, indem er seine eigenen Gesetze nicht beachtet.“

Dabei hat das Land Albanien einiges zu bieten. Die Gastfreundschaft der Albaner ist ausgesprochen ehrlich, eine alternative, engagierte Jugend steckt in den Startlöchern, Politik mitzugestalten, die Menschen sind offen für andere Kulturen und Sprachen, es herrscht praktisch Religionsfreiheit, das Land ist reich an natürlichen Ressourcen und landschaftlicher Schönheit, wirtschaftlich öffnet sich das Land immer mehr auch für den Westen und auch Minderheiten werden akzeptiert.

Doch noch ist Albanien weit davon entfernt, diese Potenziale in Wert zu setzen. Als potenzieller Beitrittskandidat der Europäischen Union rührt sich Albanien seit Jahren nicht vom Fleck. Ausgenommen Bosnien und Kosovo sind alle Länder des Balkans entweder bereits Mitglied oder offizieller Beitrittskandidat, nur in Tirana stellen sich die Politiker immer wieder quer, wenn es darum geht, Forderungen der EU umzusetzen. Die Korruptionsbekämpfung geht nur quälend voran, EU-Gesetze werden nicht implementiert und die Justiz und andere Kontrollorgane sind weiterhin zu wenig unabhängig. Deshalb besteht die EU nun am 23. Juni auf faire und freie Wahlen, um weiter glaubhaft über einen Beitrittsprozess zu verhandeln.

Wandel und Widerstand

Auch wenn der Wille der Bevölkerung nach Wandel groß ist, so blockieren die Parteien ernsthafte Strukturprozesse, weil sie selbst an der Erhaltung des Status Quo interessiert sind. Mehr EU bedeutet nämlich auch mehr Kontrolle. Und so verhindern die Finanziers der Politiker, Unternehmer und mafiöse Verbindungen, eine politische Öffnung und Alternativen, eine professionelle und nachhaltige Bauplanung und einen Ausbau der erneuerbaren Energie als Konkurrenz zu Erdöl und Stromimporten.

Doch die Stimme der Empörung wird nicht so schnell wieder verstummen und in Zukunft für Protest und Widerstand sorgen. Junge Leute in Albanien werden es nicht mehr lange zulassen, dass alte Polit-Kader die Zukunft ihres Landes verspielen. Ebenso wie die Bewegungen und Proteste in der Türkei, Nordafrika oder Brasilien in der ganzen Welt gehört werden, so wird auch die nächste Generation nicht mehr darauf warten, dass sich etwas ändert, sondern selbst den Wandel hin zu einem demokratischeren und offeneren Albanien in die Hand nehmen.