Nachdem man nun die Pfade der individuellen Befreiung und der Bodhisattvas, sowie die äußeren Tantras mit den Vier Gedanken, die den Geist wenden, der Zuflucht, dem Entwickeln der überragenden Geisteshaltung in Richtung Erleuchtung, der Reinigungspraxis mit Vajrasattva und den Vier Kräften und dem Zusammenbringen der zwei Ansammlungen durch die Mandala-Darbringung durchlaufen hat, betritt man die Stufe der inneren Tantras.
Selbstvisualisation
Vielleicht fragen sich manchen, warum gerade eine weibliche Gestalt und warum Vajrayogini. Da das Weibliche den Aspekt des Leerseins von Eigennatur verkörpert, wird diese Form herangezogen, weil dies als Selbstvisualisation die rascheste Beseitigung der Vorstellung von Solidität und Dauerhaftigkeit bringt. Weiters wird gerade diese Gestalt in der Tradition der Alten Überlieferung (Nyingma) bevorzugt, da hier auch das mythische Verhältnis zwischen Yeshe Tsogyal und Guru Padmasambhava abgebildet ist.
Guru – Weisheitsnatur
Während man sich selbst als Vajrayogini auf einem entsprechendem Untergrund hervorbringt, erscheint vor einem im Raum in einer Aureole aus Regenbogenlicht auf einem dreifachen Sitz die Essenz des Lehrers in Gestalt von Padmasambhava. Dieser erscheint jugendlich, in königlicher Haltung sitzend und mit allen Charakteristika und Merkmalen ausgestattet, friedvoll-zornvoll lächelnd. Er trägt einen Lotushut, die drei Dharma-Roben, hält Vajra und Schädelschale mit Langlebensvase. In seiner linken Armbeuge hält er einen Khatvanga – den tantrischen Stab. Diese Erscheinung wird auch als „Nangsi Zilnön“ bezeichnet, was soviel bedeutet wie „jener, der die Erscheinungswelt durch Pracht bezwingt“.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass es unterschiedliche Erscheinungen von Guru Rinpoche gibt. So kann es sein, dass er in einer anderen vergleichbaren grundlegenden Praxis in Gestalt des Orgyen Tsokye – ähnlich Vajradhara – erscheint.
In ihm spiegeln sich alle Buddha-Felder und reinen Länder und er ist die Verkörperung aller Zufluchtsobjekte. Indem man dies visualisiert, wird der unaufhörliche Strom der gewöhnlichen Geistesregungen festgesetzt. Auf diese Weise praktiziert man im Tantrayana das Ruhen des Geistes (tib., gzhi nas). Anschließend erbittet man seinen Segen, indem man ihn in seiner Pracht anfleht. Danach stellt man sich vor, wie das Verpflichtungswesen (tib., dam tshig pa) und das Wesen des uranfänglichen Weisheitserkennens (tib., ye shes pa) untrennbar eins werden. „Auf diese Weise werden die Segnungen erbeten. Man stellt sich vor, dass das Verpflichtungs- und das Weisheitswesen untrennbar werden.“
Darauf kann ein kürzeres oder längeres Bittgebet an den Guru erfolgen. In manchen kurzen Liturgien wird dies jedoch ausgelassen. Es ist aber hilfreich, an dieser Stelle eine große Hingabe zum Lehrer zu entwickeln. Bedingungslose Hingabe ist überhaupt der wesentliche Faktor im Vajrayana, da sie das Festhalten an Ichvorstellungen zum Erliegen bringt. Wie schon der Drikung Kyobpa Jigten Sumgön gesagt hat: „Wenn die Sonne der ehrfürchtigen Hingabe nicht auf die Schneegipfel des Gurus scheint, wird der Segensstrom nicht fließen. Darum halte deinen Geist aufmerksam in ehrerbietiger Hingabe.“ Und weiter aus dem Vier-Kaya-Guru-Yoga des Fünffachen Pfades zur Mahamudra: „Der Schneegipfel ist ein Symbol für die Natur der vier Kayas, die Sonne für die ehrerbietig hingebungsvolle Bitte. Wenn Sonnenstrahlen den Schneegipfel treffen, strömt das Wasser herab – ein Symbol für den Segen, der vom Guru kommt.“ Hingabe in dieser Form rührt die Tiefen der Hölle auf, wie in verschiedenen Dharma-Texten öfters erwähnt wird.
Segensstrom
Nachdem man zuvor ein kürzeres oder längeres Bittgebet so oft wiederholt hat, bis unerschütterliche Hingabe in einem entstanden ist, visualisiert man folgendes: „Die drei Stellen des Lehrers sind mit einem weißen OM, einem roten AH und einem blauen HUM gekennzeichnet, von diesem strahlenden Licht sollte man sich vorstellen, dass dies die Plätze des Verweilens der drei Vajras aller Tathagatas sind. Von diesen gehen Lichtstrahlen und Tropfen aus, in denen zahllos wie Atome in Sonnenstrahlen die Formen der Buddhakörper, der Buchstaben und Handsymbole sind. Indem diese in einen sich auflösen, erhält man ausnahmslos alle Ermächtigungen, Segnungen und Verwirklichungen. Das äußere Universum (Gefäß) ist der Palast von Ngayab Zangdog Palri – der strahlende kupferfarbene Berg – und die Einwohner sind die Versammlung der Dakas und Dakinis von Orgyen. Alle Klänge sind auf natürliche Weise der Klang des Mantras. Aus dem Zustand des Verstehens der Projektionen und Reflexionen des Geistes ist dies die selbstbefreite, leuchtende Klarheit.“
Zum Abschluss fleht man wiederum den Guru an und bittet um die Untrennbarkeit. Danach löst sich der Guru in die essentielle Natur der Großen Glückseligkeit auf, wird zu einer winzigen, fünffarbigen Lichtkugel und verschmilzt mit dem eigenen Herzzentrum. Auf diese Weise werden der Geist des Lehrers und der eigene Geistesstrom ununterscheidbar.
„Man verweilt in meditativer Versenkung im Zustand jenseits des Denkens, in lichter Klarheit, im Gewahrsein der ursprünglich innewohnenden Natur, dem Dharmakaya – des Lehrers eigenes Gesicht – so lange wie möglich. Dies ist die geheime Art, die Aktivitäten auszuführen, welche die ungekünstelte, absolute Praxis des Lamas ist. Wenn man anschließend aus der Praxis sich erhebt, erwacht man dazu, dass alle Phänomene, Klänge und Gedanken die drei Geheimen des Lehrers sind.“
Abschließend widmet man den Verdienst – das konstruktive Potential – dieser Praxis dem Wohle aller Wesen als Ursache, damit sie den unübertroffenen Zustand der höchsten Befreiung erlangen mögen.
Postmeditative Sicht und Praxis
Hat man so hingebungsvoll praktiziert, erhebt man sich vom Kissen und wendet sich den alltäglichen Handlungen zu. Allerdings hält man dabei eine bestimmte Sichtweise. „Nachdem man die Widmungs-, Wunsch- und glückverheißenden Gebete gesprochen hat, geht man an diesem Punkt wieder zu den alltäglichen Handlungen über. Ebenso hält man aber während den Sitzungen die Sicht aufrecht, dass die Erfrischungen der Getränke und die Natur des Essens Nektar ist und alle Bekleidung göttlicher Schmuck ist, welche dem Lehrer über dem eigenen Scheitel dargebracht werden. Was immer als Phänomen der sechs Sinne auch entsteht, man folgt ihm nicht mit den gewöhnlichen Gedanken, sondern bewahrt das strahlende, natürliche Gewahrsein von Gottheit, Mantra und uranfänglicher Weisheit.“
Dieses Verständnis wendet man auf alle Situationen des Lebens an bis hin zum Zeitpunkt des Sterbens. „Ebenso zu Zeit des Sterbens, durch das Vermischen von leuchtender Klarheit, Gewahrsein und Raum, verbleibt man in Meditation, die die unübertroffene Praxis der Übertragung (phowa) ist. Wenn man dies nicht erreicht, kann man sich im Bardo an die drei yogischen Verfahren erinnern, durch die man Befreiung erlangt. Daher, indem man dies die ganze Zeit aufrecht hält – äußerst reines Vertrauen, Hingabe und Gelübde – entwickelt und vermehrt sich die Übung der Einheit der beiden Ansammlungen.“
Versprechen der Praxis
„Indem man so, wie oben gezeigt, die vier Wege um den Geist zu wenden, die Stufen der Ansammlung und Reinigung praktiziert, erfährt man jedes der Resultate und besonders durch das Guru-Yoga, da es allein der tiefgründige, außergewöhnlich essentielle Pfad des Vajrayana ist. Indem man diese lebendige Übung als Hauptübung hält und dies eifrig praktiziert, ist es nicht notwendig, sich um die anderen Übungen der Erzeugungs- und Vollendungsyogas zu kümmern, da man im reinen Land Ngayab Pema Öd Atem holt. Wie magisch wird man die Stufen der Vidyadharas überqueren und wird gewiss die Ebene des vollkommen uranfänglichen Weisheits-Lehrer erlangen.
Wenn es da weisen
Dies sind einige Darlegungen zu den grundlegenden Übungen und ihrer Wichtigkeit. Es gibt manche, von der Ichsucht befallene und verschleierte Geister, die glauben, dass diese Übungen lediglich Kinderkram wären oder nur als Vorbereitung für die eigentliche Praxis der zwei Phase von Erzeugung und Vollendung wären. Doch ist das Verständnis dieser Wesen durch Hindernisse getrübt und mangels geringem Verdienst (konstruktivem Potential) begreifen sie die Grundlagen nicht. Da ich mich in den drei Teilen auf die Praxis aus der Herzessenz der Dakinis (Khandro Nyingthig) von Dudjom Rinpoche Jigdral Yeshe Dorje gestützt habe, mögen durch seine Worte die Essenz der Drei Wurzeln – Guru, Deva, Dakini – in diesen grundlegenden Übungen alle hochmütigen und verschleierten Wesen auf die Wichtigkeit dieser Praxis hingewiesen werden. „Diese tägliche Rezitation der grundlegenden Übungen wird der „Triumphwagen des Pfades der Vereinigung“ genannt, der die allgemeine Belehrung der drei Abschnitte des Lama, der Vollendung (Yidam) und des Herzens (Khandro) des neuen Schatzes, der tiefgründig, geheimen „Herzessenz der Dakinis“ ist.“
Auch wenn ich mich bei dieser Darlegung auf die Herzessenz der Dakinis gestützt habe, so ist dies nicht als eine Anleitung für die Praxis an sich zu verstehen. Die entsprechende Praxis mit den erforderlichen Hinweisen und Erklärungen sind persönlich von einem Lehrer im Zusammenhang mit den Textübertragungen zu erbitten. Da in diesen Zeiten des Niedergangs wenig sinnvolle Worte von einem wie mir zu erwarten sind, so mögen sie aber dennoch allen hingebungsvoll Praktizierenden als Inspiration dienen.
Advertisements