Selbständige Kinder und Silvester in Paris

Von Momstagebuch

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Bianca und Marco waren mittlerweile 8  und 5 Jahre alt. Nun mussten meine Eltern die Kinder nicht mehr abholen, wenn ich ab und an mal länger arbeiten musste. Bianca bekam einen Wohnungsschlüssel. Sie holte ihren 5-jährigen Bruder Marco von der KiTa ab und so gingen beide alleine den Weg zu Fuß nach Hause. Ganz wohl war mir nicht bei der Sache, schließlich lebten wir in der Stadt und die Kinder mussten eine 4-spurige Straße an einer Fußgängerampel überqueren. Wir übten das natürlich einige Male, bevor ich sie den Weg alleine machen ließ. Meine beiden Kinder waren auch in diesem Punkt wirklich folgsam und meisterten ihren Nach-Hause-Weg einfach toll.
Manchmal mussten sie zuhause noch ein Stündchen auf mich warten. Dann riefen sie mir meist auf der Arbeit an und ich war beruhigt und wusste, dass sie wohlbehalten zuhause angekommen waren.
Nicht immer fand ich friedlich spielende Kinder vor, wenn ich müde von der Arbeit nach Hause kam. Bianca war die Große und ließ das ihren kleinen Bruder auch ab und zu spüren und zwang ihn, Dinge zu tun, die er eigentlich gar nicht machen wollte. Der wiederum beklagte sich dann bitterlich bei mir über diese Ungerechtigkeit. Aber alles in allem verstanden sie sich richtig gut und hatten ein auffallend enges Geschwister-Verhältnis zueinander. Marco profitierte sehr von seiner großen Schwester. Wenn diese Hausaufgaben machte, dann setzte er sich des Öfteren zu ihr ins Zimmer, nahm sich ein Blatt Papier und begann, Buchstaben abzumalen oder auch Zahlen. Oder sie schauten gemeinsam Kindersendungen, die für die damalige Zeit üblich waren: Duck Tales, Die Gummibärenbande, die Glücksbärchis, He-Man, Heidi usw... wer erinnert sich daran?
Bianca war nach wie vor eine sehr gute Schülerin und es zeichnete sich ab, dass sie wohl aufs Gymnasium gehen würde. Und um Marco machte ich mir auch keine Sorgen diesbezüglich. Lediglich das stillsitzen war noch ein Problem für ihn, aber er hatte ja auch noch ein Jahr Zeit bis zur Einschulung.
In der Zwischenzeit hatte sich meine Beziehung zu meiner Schwiegerfamilie wieder einigermaßen normalisiert. Zwar empfing man mich nicht gerade herzlich, wenn ich die Kinder zu irgendwelchen Familienfeiern brachte, damit sie mit ihren Cousinen, Tanten und Onkeln, und vor allem mit ihrer "Nonna" (italienisch für Oma") sein konnten, doch man tolerierte mich wieder in ihrem Kreis. Nach wie vor war es mir wichtig, dass meine Kinder den Kontakt zu ihrer italienischen Familie nicht verloren. Auch wenn Italo und ich uns nichts mehr zu sagen hatten, so gehörten meine Kinder auch zu dieser Familie und ich wusste, das ich ihnen schuldig war, dass sie diese Familie auch erleben konnten.
Anna, meine Ex-Schwiegermutter, war mittlerweile im Rentenalter angekommen und musste nicht mehr arbeiten gehen. Ihre Rente war allerdings viel zu gering, als dass sie davon hätte leben können. So unterstützte sie jedes ihrer Kinder  mit einem monatlichen Betrag und Anna konnte einigermaßen sorgenfrei ihren Lebensabend genießen.
Italo hatte seit kurzem angefangen, mir etwas Unterhalt zu zahlen, 400 DM insgesamt für beide Kinder, etwa 200 EUR wären das heute, also 100 EUR für jedes Kind. Als ich von Annas finanziellen Nöten erfuhr, da tat sie mir sehr leid. Das hatte diese fleißige Frau nicht verdient, dass sie nach all der vielen und schweren Arbeit und nachdem sie 8 Kinder groß gezogen hatte. in Armut leben musste. Und so vereinbarte ich mit Italo, dass er mir nur noch 350 DM an Unterhalt zahlen sollte, die 50 DM, die er einbehielt, sollte er zusammen mit dem Betrag, mit dem er selbst seine Mutter monatlich unterstützte, an seine Mutter überweisen. Ich bat ihn, niemandem zu erzählen, dass ich mich ebenfalls an der Unterstützung Annas finanziell beteiligte. Ich hatte die Befürchtung, dass sie kein Geld von mir als der ungeliebten deutschen Schwiegertochter annehmen würde. Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass ich ein gutes Werk tat und Anna das Geld auch bekam. Doch nach einigen Jahren kam raus, dass Italo die 50 DM, die er vom Unterhalt der Kinder für seine Mutter einbehielt, nie an seine Mutter überwiesen, sondern für sich selbst behalten hatte....
Mit Italo's jüngerer Schwester hatte ich nach wie vor ein gutes Verhältnis. Ich glaube, es war Silvester 1990, als sie mich fragte, ob ich mit ihr Silvester in Paris verbringen wollte. Was für eine tolle Idee! Silvester auf der Champs Elysée und unterm Eifelturm... ich stellte mir das traumhaft vor. Doch wie sollte ich das mit den Kindern organisieren? Meine Eltern gingen seit vielen Jahren mit meinem Bruder und seiner Familie und der Schwester meines Vaters über Weihnachten und Silvester ins Kleine Walsertal. Das war der einzige Jahresurlaub, den sich meine Eltern während ihrer Selbstständigkeit gönnten Und der war ihnen heilig. Ich war nie dabei, weil ich mir diesen Aufenthalt im Kleinen Walsertal nicht leisten konnte. Meine Eltern fielen also flach als Babysitter. Da sprang unverhofft Anna ein. Sie sagte, ich könne Bianca und Marco gerne über Silvester bei ihr lassen. Perfekt! So kam es, dass ich am Abreisetag meine beiden Kinder zu ihrer Nonna brachte und mich erwartungsvoll und freudig mit Silvia, meiner Schwägerin in den Reisebus setzte. Noch nie zuvor war ich in Paris gewesen, entsprechend aufgeregt war ich.
Die Fahrt verlief ruhig, wir fuhren gegen Abend in Stuttgart ab und sammelten noch weitere Mitreisende in Pforzheim und Karlsruhe auf. Am frühen Morgen dann kamen wir in Paris an und wir frühstückten in der Nähe des Moulin Rouge. Dann ging es weiter, wir machten eine Stadtrundfahrt. Ich war begeistert und tief beeindruckt von Paris. Was für eine schöne Stadt! Ich weiß gar nicht, was ich als Erstes aufzählen soll, der Mont Martre, Notre Dame, Centre George Pompidou, der Louvre, der Triumpfbogen, der Eifelturm, das Seine-Ufer, die unzähligen Brücken, der Place de la Concorde, le Jardin des Tuileries oder der Place de la Bastille, bei dem wir ganz in der Nähe in ein Hotel eincheckten. Sehr müde und trotzdem voller Tatendrang machten wir uns auf, die Stadt nun auf eigene Faust zu erkunden. Es gab so viel zu sehen, diesmal empfand ich die Stadt nicht als erdrückend, sondern als sehr interessant. Und gegen Abend kauften wir uns eine Flasche Sekt samt Plastikbecher und machten uns mit der Metro auf Richtung Triumphbogen. Es war bereits nach 23 Uhr, aber noch nicht 24 Uhr.
Die Metro war überfüllt und die Champs Elysées war bevölkert von tausenden Menschen aus aller Welt. Die Fußgänger eroberten die 70m breite Fahrbahn, die Autos hatten keine Chance mehr. So hupten die Fahrer einfach oder stiegen einfach aus, schlossen ihr Auto mitten auf der Straße ab und schlossen sich der riesigen Menschenmasse an, die Richtung Triumpfbogen pilgerte.
Silvia und ich waren mittendrin. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Da ging eine unglaublich große Zahl an Menschen aus aller Welt zum Triumphbogen. Die meisten hatten sich wie wir mit Champagner und Sekt bewaffnet und mit Plastikbechern zum Anstoßen. Ein bunter Kauderwelsch an mir unbekannten Sprachen umgab mich, zwischendurch schnappte ich  Fetzen in Italienisch, Englisch, Deutsch und natürlich auch in Französisch auf. Je näher wir dem Triumphbogen kamen, umso enger wurde es, umso mehr Menschen quetschten sich die Straße entlang. So langsam fand ich das nicht mehr angenehm. Zumal es auch einige Menschen gab, die Silvesterfeuerwerk bei sich hatten und es inmitten dieser unglaublichen Menschenmasse abfeuerten. Das war sehr gefährlich, doch Gott sei Dank wurde niemand verletzt.
Die letzten Sekunden vor Mitternacht waren angebrochen. Wir hatten es nicht ganz bis zum Triumphbogen geschafft, zu viele Menschen versperrten uns den Weg. Der Countdown wurde gemeisam heruntergezählt: 10...9...8...7...6...5...4...3...2...1...plötzlich erhellte sich der Pariser Nachthimmel durch ein wunderschönes Feuerwerk, die Menschen schrien, wünschten sich gegenseitig "Bonne année"! Man herzte und küsste sich, nahm sich in den Arm...auch ich wurde immer wieder von wildfremden Menschen in den Arm genommen und auf die Backe geküsst... nach kurzem Zögern tat ich es dann den anderen gleich und nahm meinerseits mir wildfremde Menschen einfach in den Arm, wünschte ihnen "Bonne année" und küsste sie auf dieWangen.
Man prostete sich zu, schenkte sich gegenseitig in die Becher ein, wünschte sich "Santé" und war einfach nur glücklich und ließ sich treiben. Es war fast schon wie ein Rausch! Nie zuvor hatte ich solch ein Silvester erlebt. Da lebte ich seit einigen Jahren in meiner Isolation und nun das! Dieses Silvester berührte mich sehr, die Art wie die Menschen miteinander feierten, obwohl sie sich nicht kannten und sich oft auch gar nicht verstanden, es war einfach nur beeindruckend. Ich genoss jede Sekunde dieser intensiven Momente und sog sie tief in mich hinein.
Langsam, ganz langsam, löste sich die Menschenmenge wieder auf. Erst gegen 3 Uhr war der Champs Elysées wieder mit dem Auto vorsichtig befahrbar.
Auch Silvia und ich waren nun sehr müde. Wir hatten die Nacht davor im Reisebus mehr oder weniger etwas geschlafen und waren den ganzen Tag unterwegs gewesen. So machten wir uns auf dem Weg zurück zum Hotel. Es fuhr keine Metro mehr und sämtliche Taxis waren besetzt. So blieb uns nichts weiter, als den Weg zu Fuß zurück zu legen. Es war ein weiter Weg bis zum Place de la Bastille, kilometerlang gingen wir an der Seine entlang, die Füße schmerzten und waren eiskalt, es hatte Minusgrade. Nach etwas mehr als einer Stunde waren wir endlich an unserem Hotel angekommen und fielen nur noch ins Bett.
Am nächsten Morgen jedoch waren wir wieder einigermaßen fit, frühstückten und machten anschließend noch eine kleine Tour an der Seine entlang. Die vielen Künstler, die dort ihre Bilder anboten, hatten es mir angetan. Das war eine ganz besondere Atmosphäre, die mir sehr gefiel.
Gegen Mittag fuhr dann der Bus wieder Richtung Stuttgart. Ich habe viel auf der Rückfahrt geschlafen. Gegen 22 Uhr waren wir wieder in Stuttgart, dann fuhren Silvia und ich zu Anna. Ich wollte meine Kinder abholen. Noch nie zuvor hatte ich sie so lange alleine gelassen und ich freute mich so sehr auf sie.
Bei Anna angekommen erwartete mich eine hoch fiebernde Bianca. Bereits am Samstag vormittag hatte sie mit fiebern angefangen und lag die ganze Zeit im Bett. Anna hatte sich rührend um sie und Marco gekümmert, trotzdem bekam ich gleich wieder ein schlechtes Gewissen: da hatte ich mich in Paris amüsiert und meine Tochter lag krank im Bett! Das war typisch für mich: ich hatte oft ein schlechtes Gewissen meinen Kindern gegenüber, weil ich so wenig Zeit für sie hatte und soviel arbeiten musste. Doch dieses Mal machte ich mir große Vorwürfe: warum hatte ich nicht gemerkt, dass Bianca etwas ausbrütete? Dann wäre ich doch gar nicht erst nach Paris gefahren!
Natürlich hatte ich nun auch ein weiteres Problem: ich konnte am nächsten Tag nicht arbeiten gehen, da Bianca krank war.
Mein Alltag als alleinerziehende Mutter hatte mich wieder!