SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (261): Kabir und der göttliche Augenblick

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (261): Kabir und der göttliche Augenblick

Foto: vkd

Der Mystiker Kabir lebte und lehrte im 14. Jahrhundert in Indien. Eines löste zugleich meine Neugier aus: Kabir sah sich als Vertreter einer einzigen, allumfassenden Spiritualität. Endlich jemand, der über den Tellerrand schaute.
Kabir wuchs in einer Moslemfamilie auf. In seiner Jugend wurde er Schüler des bekannten hinduistischen Asketen Ramananda, einem Vorreiter der mystischen Erneuerung gegen die intellektualisierte Lesart der damals vorherrschenden vedischen Philosophie. Später entdeckte Kabir die berühmten persischen Mystiker des Sufismus wie Rumi und Hafiz, beschäftigte sich auch mit jüdischen und christlichen Quellen.
Wie bei Ibn Arabi und Rumi bevorzugte Kabir die Poesie als Ausdrucksform seiner Seele. In ihr vereinigten sich alle spirituellen Einflüsse und Erhellungen. So verwundert es nicht, dass nach Kabis Tod 1518 Angehörige verschiedener Religionen ihn zu dem Ihren erklärten. Der Legende zufolge reklamierten Hindus, Moslems und Sufis Kabir für sich. Bei seiner Beerdigung gab es bereits den ersten Streit unter den Gläubigen. Klingt hochmodern.
In ihrer Mehrheit vermögen es viele Menschen offenbar nicht zu ertragen, wenn sich weiser Mann oder ein spiritueller Lehrer solcher Strahlkraft nicht zuordnen, kategorisieren, etikettieren und einvernehmen lässt. Dieses Phänomen kennen wir aus dem Neuen Testament, als Jesus sich mit den Pharisäern und Schriftgelehrten auseinandersetzte. Es wirkt im Fundamentalismus, Dogmatismus, in Orthodoxie und Scholastik jeder Lesart fort, sei es im eigentlichen spirituellen Kontext, sei es auf Schauplätzen der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft. Es scheint, als seien die Freiheit und Grenzenlosigkeit einer Wahrheit, in dem das Verbindende und nicht das Trennende im Vordergrund steht, unerträglich. Ebenso unerträglich, wie die Energie der Liebe, die das Sein verbindet und hier anklingt.
Auf der physischen Ebene wird die unmittelbare Erfahrung vollkommener Einheit wahrnehmbar als kosmische Energie, die alles durchdringt, alles bewegt. Wilhelm Reich nannte sie „Orgon“. Auf der psychischen Ebene mystischer Erfahrung erscheint sie als die alles verbindende Energie der Liebe.
Die Ebene des Ego-Verstands hingegen kleidet diese unmittelbaren Wahrnehmungen in Worte, Begriffe, Gestalten und Gestaltungen. Gott, die Engel, der Teufel, Himmel und Hölle, das Wunder des Seins wird zergliedert in eine Welterfahrung, in der Figuren, Kategorien, Gesetze und Worte herrschen, Abstraktionen und Gestaltungen der Energie der Liebe. „Ihr bringt mir alle Dinge um. Die Dinge singen hör ich gern.“ (Rilke)
Kabir sah und beschrieb deutlich die „Entfremdung“ des Menschen von  seiner wahren Natur, die Liebe und Freude ist und in seiner unmittelbare Verbindung zur Schöpfung und zu Gott aufscheint.
Kabir kritisierte nachdrücklich die „Religion der Äußerlichkeiten“, welche Frömmigkeit zur Schau stellte, was er in der Bilderverehrung, dem Ritualismus, in der Zurschaustellung des Yoga und der Askese aufscheinen sah.
Die Nacktheit der „himmelsbekleideten Jainas“, die Aufmachung und Ockerroben der Mönche und Yogis verspottete er, weil diese Äußerlichkeiten kaum die Erkenntnis der Wahrheit förderten. (Mit seinem langen Bart erinnert er (der Yogi) an einen Ziegenbock ...“(Kabir 2006, S. 18 ff., Vorwort von Shubhra Parashar)
Kabir gilt heute als einer einflussreichsten Dichter Indiens und als bedeutender Mystiker, dessen Wirkung weiter anhält.
Das folgende, errstaunlich aktuelle Gedicht, gibt einen Einblick in die Lehre Kabirs:
Ich bin an deiner Seite
Wo nur suchst du mich?
Schau hin! Ich bin an deiner Seite.
Ich bin nicht im Tempel,
nicht in der Moschee.
Ich bin nicht in der Kaaba
und nicht am Kailash.
Ich bin nicht in Riten und Zeremonien,
nicht in Yoga und Entsagung.
Wenn du ein wirklicher Sucher bist,
dann erblickst du mich in diesem Augenblick –
du begegnest mir in diesem Moment.
Kabir sagt:
›Gott ist der Atem allen Atems‹
(Fortsetzung folgt)
 

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