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Den Dichter Rumi erwähnte ich an anderer Stelle in Zusammenhang mit Al Baumann und Wilhelm Reich. Ich brachte in diesem Zusammenhang ihre Ambitionen zur Sprache, Gedichte von Rumi zu vertonen.
Obwohl ich mich seit meiner Jugend mit Lyrik beschäftigte, war mir Rumi bis zu diesem Erlebnis nicht bekannt. Naive Bewunderung für alles, was mit Wilhelm Reich zusammen hing, motivierte mich, mit Rumis Poesie in Kontakt zu treten.
Ich fühlte mich bei der ersten Begegnung hin- und hergerissen. Da erwachte atemlose Faszination für die klare, leidenschaftliche Sprachgewalt Rumis. Zudem kam eine verwirrende Erkenntnis zum Vorschein: Rumi hatte seine Poesie offenbar an einen Mann adressiert. Was bedeutete das? War der große Rumi etwa schwul? Ich empfand dies als befremdlich, es schien die Glaubwürdigkeit seiner Worte zu mindern. In meiner Naivität schwang eine latente Schwulenfeindlichkeit und das romantische Ideal der großen (aber bitte heterosexuellen) Liebe mit. Ich hatte nichts, überhaupt nichts begriffen. Vor allem nichts darüber, was Rumis Verständnis von Liebe betraf, das meilenweit von jenem aufschien, das sich aus dem Katechismus des Egos nährte.
Viele Jahrzehnte später ahnte ich, was in mir vorgegangen war. Die Poesie Rumis hatte zwar in dieser ersten Begegnung mein Herz berührt, jedoch mein Ego-Verstand wusste nichts Besseres, als das Geschehen sogleich zu kategorisieren, zu beurteilen, in eine Schublade zu stecken, großspurig zu etikettieren und diese für Jahre zu schließen.
Dabei ahnte ich nichts von der Essenz der Poesie Rumis und anderer Mystiker und insbesondere von ihrem tiefen Verständnis dessen, was man Liebe nannte. Ich war gefangen in jenen kulturellen Vorstellungen, die Sexualität, Spiegelung, Tauschwert und äußere Form für Liebe halten.
Das Leben von Rumi (1207–1273), bis dahin ein angesehener Gelehrter im türkischen Konya, wurde durch die Begegnung mit dem Wander-Derwisch Shams e-Tabrizi in seinen Grundfesten erschüttert und auf immer verändert. Offenbar fand er in ihm den Seelengefährten, der die Wahrhaftigkeit, Hingabe und Präsenz des Liebenden erblühen ließ und in ihm jenen spirituellen Poeten zum Vorschein brachte, den wir kennen und dessen Verse uns heute ebenso berühren wie die Menschen vor 800 Jahren. Die Strahlkraft seiner Poesie, wo anders lag ihr Geheimnis als in ihrer zeitlosen Wahrheit?
Ich fühlte mich fasziniert, ja überwältigt von der Schönheit und Weisheit in Rumis Versen. Die Klarheit der Worte ermöglichte einen visionären Blick in die Tiefsee der menschlichen Seele, in jene Welten, wo die Liebe im Dunklen wohnt. In meinem Herzen entfaltete sich eine Blüte, langsam, fast scheu, klar, und in ihr erwachte gleichzeitig eine Sehnsucht, die weiter reichte, wachsen wollte, die zog und dehnte. Eine Ausdehnung aller Sinne, eine essentielle Wirklichkeit, erzeugt durch Worte eines Mystikers und Poeten.
(Fortsetzung folgt)