Hildegard von Bingen, wikimedia commons
Der Theologe, der Exeget, der Scholastiker, sie alle fahndeten nach Wahrheit auf der Ebene der Interpretation, der Analyse, des Verstandes. Mystiker suchten Wahrheit jenseits der analytischen Trennung von Subjekt und Objekt. Sie begaben sich unmittelbar in einen Prozess der Transformation, der Selbsterforschung und -veränderung. Der Gegensatz zur Mainstream-Theologie konnte nicht größer sein!Der eine suchte Gott, um ihn zu betrachten und in das vorhandene Konstrukt des Ego-Verstandes einzubauen. Der andere suchte Gott, indem er sich in die Tiefen seiner Seele begab und aus dem Irrgarten des Ego-Verstands zu befreien versuchte.
Der eine delegierte die Suche nach der Wahrheit an die religiösen Experten und stärkte ihre Macht, und aus der Religion erwuchs die Kirche mit Bischöfen, Kardinälen und Inquisitoren.
Mystiker delegierten nicht, sie übernahmen selbst die Verantwortung für ihre Seele. Benötigten keine Kirche, »keinen Stellvertreter Gottes«, denn Gottsuche in sich selbst konterkarierte den kirchlichen Machtanspruch. Sie suchten nicht das religiöse »Wunder« in der äußerlichen Welt oder die theologische Brillanz des Bücherwissens, sondern das Innerste, das in der Welt der Seele erlebte Mysterium.
Der christliche Mystikers Johannes Tauler schrieb:
»Das Suchen, bei welchem der Mensch sucht, geschieht auf zweierlei Weise: Das eine Suchen des Menschen ist äußerlich, das andere innerlich (...) Das äußerliche Suchen, mit dem der Mensch Gott sucht, besteht in äußerer Übung guter Werke mancherlei Art, so wie sie der Mensch von Gott gemahnt und getrieben wird, wie er von seinen Freunden angewiesen wird, vor allem durch Übung der Tugenden, als da sind Demut, Sanftmut, Stille, Gelassenheit und andere (...)
Aber die andere Art des Suchens liegt weit höher. Sie besteht darin, dass der Mensch in seinen Grund gehe, in das Innerste und da den Herrn suche, wie er es uns selbst angewiesen hat, als er sprach: ‚Das Reich Gottes in in euch!‘ Wer dieses Reich finden will – und das ist Gott mit all seinem Reichtum und in seiner ihm eigenen Wesenheit und Natur –, der muss es da suchen, wo es sich befindet: Nämlich im innersten Grunde [der Seele], wo Gott der Seele näher und inwendiger ist, weit mehr als sie sich selbst.«( zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 108)
Wenn der Hingabe an und der Verschmelzung mit Gott das höchste Streben der christlichen Mystiker galt, so lag es nahe, dass es in der Breite dieser Bewegung nicht nur Männer, sondern insbesondere Frauen gab. Da zudem die mystische Erfahrung und nicht deren geistige Verschriftlichung im Vordergrund stand, fanden sich, von Ausnahmen abgesehen*, Zeugnisse weiblicher Protagonistinnen nur in verstreuter Form. Eine inwendige, erlebte Gotteserfahrung musste damals der weiblichen Natur tendenziell vertrauter erscheinen als die äußerliche, geistig-intellektuelle Herangehensweise von Scholastik und Exegese. Entsprechend war der Andrang von Mädchen und jungen Frauen auf das klösterliche Leben im Mittelalter immens, so dass die bestehenden Möglichkeiten des Klosterlebens bei weitem nicht ausreichten.
Auf diesem Hintergrund entstand die sog. »Beginen«-Bewegung. Frauen, denen die Aufnahme in eine Ordensgemeinschaft versagt war, fanden sich zusammen, um ohne klösterliche Strukturen freiwillig in Armut und Keuschheit zu leben. Diese Bestrebungen beobachtete die herrschende patriarchalische Kirche mit Argusaugen und nahm sie nicht selten zum Anlass von Inquisition und Ketzerbekämpfung.
(Fortsetzung folgt)
* Wie die berühmte Hildegard von Bingen, wobei der Anteil mystischer Erfahrungswelten in ihrem Gesamtwerk eher als gering einzustufen ist. Hildegard (1098–1179) war Äbtissin des Benediktiner-Ordens, katholische Heilige, Kirchenlehrerin, Heilkundige, Komponistin, Schriftstellerin und bereits zu Lebzeiten hoch geachtet.